Nach über zehn Jahren Stillzeit gehört das Stillen zu meinem Alltag mit Kindern. Es gab auch kurze stillfreie Elternzeiten, aber irgendwie war oder ist fast immer ein Baby oder ein Kleinkind da, welches noch gestillt wird. Wahrscheinlich habe ich in diesen Jahren auch alle Äußerungen, Annahmen, Sprüche und gut gemeinte Tipps zum Thema Stillen bzw. Abstillen gehört. Und wenn ich sie nicht selbst gehört habe, haben mir die Frauen, die ich als Hebamme begleitet habe, davon erzählt.
Meist kommen die Ratschläge erst, wenn das Baby schon ein bisschen größer ist und eben ein Großteil der Kinder hier in Deutschland nicht mehr gestillt wird. Die durchschnittliche Stilldauer beträgt hierzulande weniger als sieben Monate. Derzeit werden aktuellere Daten erhoben und ausgewertet. Aber im Zuge der sich immer weiter verschlechternden Versorgung von Müttern und Babys werden diese Daten wahrscheinlich keine wesentliche längere Stilldauer belegen.
Jedenfalls ist in der Wahrnehmung vieler Menschen das Stillen etwas, was Babys vor allem im ersten Lebenshalbjahr, vielleicht noch ein paar Monate länger betrifft. Und danach wird es dann plötzlich irgendwie ungewöhnlich und andere Menschen machen sich mehr Gedanken. Manchmal ist der Grund für Nachfragen aber einfach auch nur Interesse oder Neugierde. So wurde ich auch bei unserem vierten, mittlerweile dreizehn Monate altem Kind wieder gefragt, wann ich denn mal mit dem Abstillen anfangen würde. Der Diskussionen ein bisschen leid sagte ich einfach : „Wir sind schon längst dabei.“ Und dann wurde mir klar: Es ist tatsächlich nicht einmal Notlüge, um etwaigen Diskussionen um die vermeintlich ideale Stilldauer aus dem Weg zu gehen.
Nein, unser Abstillprozess hat tatsächlich längst begonnen. Schon seit mehreren Monaten isst das Babymädchen bei uns am Familientisch mit. Mal homöopathische Mengen, mal größere Portionen. Und dazwischen wird gestillt: morgens, mittags, abends und auch in der Nacht. Mal oft und lange, mal seltener und kurz.
Mit Beikostbeginn endet die ausschließliche Stillzeit
Die Muttermilchproduktion passt sich dem an. Auch ausschließliche Stillphasen kommen tageweise immer wieder mal vor. Zum Beispiel, wenn ein Zähnchen drückt oder ein Schnupfen die Lust an festerer Nahrung hemmt. Und so wird das weiter gehen. Auch wenn es sich an manchen Tagen anders anfühlt, wird die Essensmenge am Familientisch nach und nach steigen. Das Stillen wird sich gleichzeitig entsprechend reduzieren. Dieser Prozess verläuft nicht gradlinig, weshalb man ihn nicht am Alter des Kindes festmachen kann. Es ist gut möglich, dass ein Kind mit zehn Monaten mehr feste Nahrung zu sich nimmt als mit vierzehn Monaten. Und dementsprechend auch anders stillt.
Der Prozess des Abstillens beginnt, wenn die ausschließliche Stillzeit mit ungefähr sechs Monaten langsam endet. Auch andere Entwicklungsprozesse des Babys verlaufen so. Wenn das Kind die ersten Schritte macht, ist natürlich nicht sofort die Krabbelphase vorbei. Noch eine ganze Weile wird ein Kind sich auf beide Arten fortbewegen. All diese Übergänge passieren in der Regel fließend, so dass man selten sagen kann: Ab diesem einen Tag ist das Kind nicht mehr gekrabbelt. Die wenigsten Mütter können später genau sagen, dass an diesem einen Tag das letzte Stillen stattgefunden hat, wenn sie denn das Abstillen seinem natürlichen Verlauf überlassen.
Auch ein allmähliches Abstillen ist ein möglicher Weg. Dabei steuert die Mutter den Abstillprozess und somit die Regulation der Milchbildung. Dies passiert etwa durch aktives Anbieten von Beikost, meist indem diese gefüttert wird. Natürlich sind auch beim Füttern unbedingt die Signale des Babys zu beachten. Erfahrungsgemäß nehmen Babys gerade in den ersten Beikostmonaten so mehr festere Nahrung zu sich, als wenn sie sich mittels Baby-led weaning komplett selbst am Esstisch bedienen. Dadurch reduziert sich das Stillen entsprechend schneller.
Stillen ist weit mehr als reine Muttermilchproduktion
Dies ist auch der Fall, wenn Muttermilchmahlzeiten nach und nach durch Pre-Nahrung ersetzt werden. Im ersten Lebensjahr allerdings stillt sich ein Baby in der Regel nicht von selbst ab. Jedoch können Phasen auftreten, in denen das Kind die Brust verweigert, was dann bisweilen als Abstillbedürfnis fehlinterpretiert wird. Diese Stillstreiks, die meist von heute auf morgen auftreten, haben aber andere Ursachen. Wenn sich die Situation nicht auflösen lässt, ist eine Stillberatung hilfreich, damit es weder zu einem Milchstau noch zu einem noch nicht gewünschten Abstillen kommt.
Veränderungen in der Zusammensetzung der Muttermilch finden beim Abstillen übrigens erst dann statt, wenn sich das tägliche Milchvolumen um etwa 300 Milliliter reduziert hat. Dann steigt der Gehalt an Proteinen, Natrium und Eisen an. Der Laktosegehalt dagegen sinkt, was dazu führt, dass die Muttermilch weniger süß schmeckt. Deswegen ist die Muttermilch aber nicht weniger nahrhaft. Sie passt sich nur den Bedürfnissen des Kindes an. Durchschnittlich decken gestillte Kinder im zweiten Lebensjahr ihren Energiebedarf noch zu über 30 Prozent über die Muttermilch. Darüber hinaus ist das Stillen natürlich weit mehr als reine Muttermilchproduktion. Auch Beruhigung, Trost, Entspannung oder Begleitung in den Schlaf brauchen Kinder auch nach dem ersten Geburtstag. Stillen kann da auch weiterhin ein möglicher Weg sein.
Das natürliche Abstillen geht vom Kind aus
Das natürliche Abstillen, also vom Kind ausgehend, ist somit ein wesentlich längerer Prozess, der aber eben auch mit den ersten Beikostversuchen beginnt. Ob sich das Kind nun mit 15 oder 30 Monaten oder noch später komplett abstillt, ist höchst individuell. Das natürliche Abstillalter von Menschenkindern beginnt in der Regel erst bei zweieinhalb Jahren und geht weit darüber hinaus. Aber nur, weil etwas „natürlich“ ist, muss das natürlich nicht der passende Weg für alle Mütter und ihre Kinder sein.
Abstillen darf natürlich auch von der Mutter ausgehen bzw. sollte es auch, wenn es ihr damit nicht mehr gut geht. Doch Mütter, die das Entwöhnen von der Brust dem natürlichen Abstillprozess überlassen und weiter nach Bedarf stillen, müssen sich genau so wenig rechtfertigen. Und wenn mal wieder jemand kritisch fragt, wann das Kleinkind denn endlich abgestillt wird, kann man ganz einfach sagen: „Wir stillen ab – im für uns passenden Tempo.“
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