Antonia ist 33 Jahre und mittlerweile Mutter von drei Kindern. Aktuell ist sie in Elternzeit, betreut aber sonst in ihrer Hebammenpraxis in Süddeutschland Frauen vor und nach der Geburt. Als sie mit 27 Jahren ihr erstes Kind erwartete, hat sie zusätzlich noch Beleggeburten in einer Klinik begleitet. Hier erzählt sie von der sehr anstrengenden Geburt ihrer ersten Tochter Amélie und dem nicht einfachen Start für Mutter und Kind. Ihr detaillierter und sehr emotionaler Geburtsbericht besteht größtenteils aus den Originalnotizen, die sie kurz nach der Geburt verfasst hat.
1. August:
● Ich putze nachmittags Küche, backe meinen Geburtstagskuchen für den nächsten Tag. „Tonight“ von New Kids On The Block läuft im Radio. Spüre, dass es heute Nacht losgehen wird. Abends Tatort, Schleimpfropf, Gespräch mit Michael, dass es unsere letzte Nacht ohne Baby sein könnte.
2. August (mein 28. Geburtstag)
● 03.50 Uhr: Ich wache auf von der ersten „Wehe“ und gleichzeitig habe ich starkes Nasenbluten. Stärker werdende Kontraktionen (Wehen) ca. alle zehn Minuten.
● 05.00 Uhr: Aufgestanden, Lust auf Salamibrot, Stärke der Wehen nimmt zu, unregelmäßig, gut auszuhalten, leichtes Zeichnen. (Anm. d. Red.: Abgang von etwas blutigem Schleim, der die Muttermundseröffnung ankündigt.)
● 07.00 Uhr: SMS an Ursel (Hebamme), dass ich sie vielleicht heute noch brauche.
● 07.45 Uhr: Badewanne, Kontraktionen nehmen zu, danach wandere ich durch die Wohnung.
● 10.30 Uhr Ursel schaut zwischen zwei Hausbesuchen vorbei, Kontraktionen sind gut auszuhalten, ich muss ständig pieseln. Ursel geht wieder.
● 12.00 Uhr Die Wehen werden stärker und regelmäßiger, vor allem über der Symphyse. Ursel kommt wieder. Erste vaginale Untersuchung: Muttermund ein Zentimeter. Doof. Ursel bleibt trotzdem. Ab da geht’s weiter ohne Zeitgefühl.
● Verschiedene Positionen, die Wehentätigkeit ist nie regelmäßig, aber immer schmerzhafter, ich habe starkes Kopfweh, Rückenweh, aber vor allem tun die Blase und die Symphyse so weh bei jeder Wehe.
● Nach circa drei Stunden nochmal untersucht, Muttermund knapp zwei Zentimeter, straff, totale Frustration. Ich unterstelle Ursel, dass sie lügt, um mich nicht noch mehr zu frustrieren. Nochmal Wanne, Brot mit Gurke, Wanne ist doof, weil ich ständig pieseln muss, aber nicht ins Wasser machen will.
Zwölf Stunden und nix…
● Michael ist zwischendrin immer wieder weg, auf seinen Feldern läuft die Ernte, er muss nach dem Rechten sehen. Aber Ursel ist ja da. Und es ist ja nix akut…
● Ich tigere rum. Turne aufm Sessel, stehe, liege, sitze, knie, stehe, gehe…
● Irgendwann erneute vaginale Untersuchung: Wie gehabt, die große Fontanelle (Anm. d. Red.: noch nicht verknöcherter Bereich am Schädel des Babys) führt. Seitenlage. Schlafe zwischen den Wehen ein. Wehen unregelmäßig, alle drei bis acht Minuten. Die Schmerzen sind höllisch. Ich schreie laut bei jeder Wehe, aber ich will nicht ins KKH, obwohl sich alles so falsch anfühlt.
● 19.00 Uhr: Immer noch der gleiche Muttermundsbefund, eher noch straffer. Info an die zweite Hebamme, sie kommt circa 30 Minuten später. Ihr Baby, das sie dabei hat, motiviert mich.
● Sie untersucht auch nochmal: kein Geburtsfortschritt, der Muttermund geht eher wieder zu und ist knüppelhart und straff. Ich heule ohne Ende, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Zwölf Stunden und nix…
● Akupunktur am Kopf. Beschließen, noch eine Stunde zu warten, dann Verlegung ins Krankenhaus, wenn sich nix getan hat.
● Äpfelschütteln (Anm. d. Red.: Lockern des Beckens durch Schüttelmassage am Gesäß), da ich nicht lockerlassen kann. Ich kann nur noch schreien in der Wehe, veratmen geht nicht mehr.
Vaginale Untersuchung: wie gehabt. Ich will jetzt sofort ins Krankenhaus und eine PDA (Periduralanästhesie). Spontaner Entschluss für das Perinatalzentrum. Es liegt am nächsten. Kurz noch das nötigste in die Tasche geschmissen, ich weiß nicht mehr, wie ich zum Auto gekommen bin.
Willenlos unterschreibe ich alles
● Die Hebamme gibt mir Fenoterol-Spray (Anm. d. Red.: hemmt die Wehentätigkeit). Ich soll ab und an mal einen Hub nehmen, um die 25 Minuten Fahrt zu erleichtern. Nehme ständig einen. Nur drei Wehen auf der Fahrt.
● 21.00 Uhr: Ankunft im Krankenhaus. Auf dem Parkplatz werde ich angestarrt. Eine Wehe kommt, ich veratme sie sehr laut. Die Leute glotzen noch doofer. Egal. Wo geht’s zum Kreißsaal? Warum macht denn keiner auf?
● Endlich, die Hebamme öffnet und Ursel stößt einen Freudenschrei aus: Barbara, eine liebe Kollegin von früher, hat grade ihren Nachtdienst angetreten. Ich schaffe es nicht zu grüßen, sage nur: „Ich will ’ne PDA“. Sie durchschaut die Situation, glaub ich. Aber keiner spricht von abgebrochener Hausgeburt.
● Ich bekomme sofort Meptid (Anm. d. Red.: Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioid-Analgetika) und damit einen Vollrausch. Ich erzähle Mist und muss in den Wehen lachen, obwohl sie eigentlich immer noch genauso weh tun.
● Blutentnahme, Aufklärung, willenlos unterschreibe ich alles. Egal was. Endlich kommt Dimitri, der Anästhesist. Ich klammere mich an Michael, dann an die Anästhesieschwester. Ich bekomme den Rücken nicht rund. Beim zweiten Versuch sitzt die PDA. Das Legen tut nicht weh.
Kurz danach wird es endlich besser. Erleichterung. Ich bin sooo müde! Vaginale Untersuchung nach einer Stunde: fünf Zentimeter. Es geht voran. Endlich! Ich handle raus, mit dem Wehentropf zu warten. Habe Angst vor schlechtem CTG, Sectio (Kaiserschnitt), VE (Saugglocke) etc. Zunächst sind noch einigermaßen Wehen da, dann werden sie weniger.
● Die Herztöne des Kindes sind immer gut, Gott sei Dank. Barbara hat das CTG weggedreht, damit ich nicht gucke. Auf dem Monitor im Kreißsaal sehe ich, dass mehrere andere Geburten auf Hochtouren laufen. Ich bin die meiste Zeit auf mich allein gestellt.
● Ich finde es schrecklich die Geburt nun so passiv zu erleben. Rechtes Bein komplett taub. Seitenlage, Dauer-CTG, Infusion, alles was ich nie wollte. Obwohl die Wehen nun nicht mehr weh tun, merke ich, wie anstrengend die Geburtsarbeit trotzdem für den Körper ist. Extrem!
3. August:
● Nach drei Stunden vaginale Untersuchung: noch immer fünf Zentimeter. Mist. Die große Fontanelle führt (Anm. d. Red.: normalerweise führt die kleine Fontanelle, wenn das Kind das Köpfchen schon entsprechend gebeugt hat, um das Becken zu passieren). Mist. Ärzte werden nervös und reden von Geburtsstillstand und Sectio.
● Also nun doch Oxytropf (Anm. d. Red.: Infusion, die ein wehenanregendes Medikament enthält). Nach zwei weiteren Stunden immer noch derselbe Befund bei der Untersuchung. Ich heule Rotz und Wasser. Eine Entscheidung steht an: Sectio. Ich frage nach dem CTG, die kindlichen Herztöne sind gut. Ich lehne die Sectio ab. Obwohl ich keine Kraft mehr hab. Weiß nicht, wo ich die Kraft her hatte, zu widersprechen!?
● Oxy also rauf (Anm. d. Red.: Wehentropf wird in der Dosierung gesteigert). Hopp oder topp. Noch eine Stunde später: sechs Zentimeter Muttermundseröffnung, straff. Erleichterung. Ich schaffe das. Wenn das Kind das schafft. Die Herztöne sind immer gut.
Meine Erinnerungen verwischen
● Ich schöpfe wieder Hoffnung. Massage des Muttermundes mit Nachtkerzenöl, Globuli, Spascupreel (Anm. d. Red.: Spasmolytikum-entkrampfendes Medikament). Das rechte Bein ist völlig taub und rutscht immer wieder aus dem Bett. Linkes Bein wieder da. Scheiß Gefühl. Ich schimpfe und motze vor mich hin. Und die Blase, die Blase tut wieder so höllisch weh und die Symphyse.
● K-Urin (Anm. d. Red.: die Harnblase wird mit einem Katheter entleert), unendlich viel Urin plätschert in die Nierenschale. Ist mir völlig wurst. Ich schäme mich für nix mehr heute.
● Meine Erinnerungen verwischen. Irgendwann kommt der Frühdienst, eine sympathische junge Hebamme. Und neue Ärzte: Chefarzt, Oberärztin und Anästhesieärztin. Sie betreten den Raum und ich weiß, dass ich jetzt nicht mehr diskutieren kann, dass die Entscheidung zur Sectio in der Frühbesprechung gefallen ist.
● Noch mal vaginale Untersuchung, und Überraschung: der Muttermund ist auf acht Zentimeter eröffnet!!!!!!
● Nochmal Schonfrist, aber mein Körper kann einfach nicht mehr. Ich zittere, heule immer wieder, habe schmerzhafte Wehen trotz PDA, das taube Bein nervt und fällt aus dem Bett.
● Die Wehen werden trotz Wehentropf immer seltener, zum Teil nur alle acht Minuten. Noch zwei Stunden, bis der Muttermund bis auf einen Saum vollständig ist. Eine Stunde später immer noch der gleiche Befund. Wehentropf wird gesteigert. Ich bitte Birgit, den Saum zu reponieren (Anm. d. Red.: die Hebamme versucht bei der vaginalen Untersuchung den restlichen Muttermundssaum wegzuschieben). Aber es klappt nicht. Zu straff.
● Akupunktur an den Beinen.
● Die Oberärztin sagt: „Noch eine halbe Stunde, dann reicht es.“
● Ich weiß, dass es ihr Ernst ist und dass ich es nicht mehr schaffen werde, zu widersprechen. Ich weine nochmal kurz und heftig. Dann rede ich nochmal mit dem Kind. „Wenn du normal geboren werden willst, dann JETZT! Du MUSST jetzt mithelfen! Stoß dich ab, Komm raus, ich will dich gebären! BITTE BITTE BITTE!“
„Nimm es zu dir“
● Zehn Minuten später spüre ich deutlich, wie das Baby sich dreht und wie der Kopf ins Becken rutscht. Es wird klappen!!!
● Kurze Zeit später spüre ich Druck in der Scheide und auf den Darm. Ich schiebe mit meinem vagen Gefühl mit.
● Vaginale Untersuchung: das Köpfchen ist in Beckenmitte. Es dauert nochmal 45 Minuten, bis Birgit sagt: „Es hat Haare!“ Und Michael sieht die Haare auch schon! Das motiviert mich. Ich rolle mich irgendwie vom Rücken in Seitenlage, Michael hilft mir dabei. Was anderes geht nicht wegen der tauben Beine. Wollte so gerne Vierfüßler oder Hocke, aber es ist okay.
● Endlich kann ich den Kopf anfassen und muss schon wieder heulen, allerdings zum ersten Mal während dieser Geburt vor Freude.
● Der Dammschutz (Anm. d. Red.: geburtshilfliche Maßnahme, die Verletzungen im Dammbereich verhindern soll) beginnt. Ich merke, wie Stuhlgang abgeht, aber es ist mir egal. Meine Hebamme fragt, ob sie akupunktieren darf. Klar! Warme Tücher tun gut. Der Kopf bleibt jetzt stehen. Aber ich schaffe es nicht, ihn über den Damm zu schieben. Diskussion um Episiotomie (Anm. d. Red.: Dammschnitt), da die Klitoris gespannt ist. Ich halte mir die Augen zu und höre das „Schnipp“ der Epi-Schere. Es war ein kleines „Schnipp“, ich höre es genau, aber spüre es nicht.
● Endlich kommt das Köpfchen um die Kurve. Ich soll hecheln. Da ist es. Und nun auf einmal hat das Baby es eilig und kommt gleich mit den Schultern hinterher. Die Hebamme sagt: „Nimm es zu dir.“
● Und ich hebe mein Baby aus mir heraus und spüre, wie der kleine Körper aus mir heraus flutscht. Da liegt es auf meinem Bauch: ein Mädchen. Sie kackt mich voll und ist das Süßeste, was ich je im Leben gesehen habe. Mein Mann legt seine Wange auf ihren Rücken und die Arme um uns beide und wir drei weinen und weinen und weinen. Vor Glück vor Erleichterung vor Stolz, vor Erschöpfung und vor Müdigkeit. Aber hauptsächlich vor Glück!
Aufgeschrieben am 4. August 2010, 24 Stunden nach Amélies Geburt, während sie beatmet neben mir im Inkubator liegt – connatale Pneumonie (Anm. d. Red.: Lungenentzündung im Neugeborenenalter, die meist wenige Stunden bis Tage nach der Geburt auftreten kann) – und ich wegen postspinalem Kopfschmerz (Anm. d. Red.: Nebenwirkung, die meist am zweiten Tag nach der Punktion für eine Peridualanästhesie auftreten kann) auf einer harten Liege nur neben ihr liegen und staunen kann.
Nachtrag im Februar 2016, fünfeinhalb Jahre später. Im Nachhinein ist mir klar geworden, warum diese Geburt für mich so schwer war. In dem Moment selber war ich einfach nur in der Situation gefangen. Meine Mutter hatte einige Wochen zuvor die Diagnose Lungenkrebs bekommen, Metastasen im ganzen Körper und keine Chance auf Heilung. Ich war nicht bereit, Mutter zu werden. Wo ich doch selbst grade so schmerzlich erfahren musste, wie sehr ich meine Mutter noch brauchte. Ich hatte (und habe immer noch) Angst, dass ich irgendwann diejenige sein werde, die geht. Meine Mutter ist drei Monate später in meinen Armen zuhause gestorben. Amélie lag daneben und hat friedlich geschlafen.
Schreibe einen Kommentar