Der Babysohn ist nun mittlerweile 15 Monate alt. Wir stillen immer noch. Als „noch“ empfinde ich es eigentlich nicht. Schließlich bezieht er doch noch immer einen Großteil seiner Nahrung aus Muttermilch. Die WHO empfiehlt eine Stillzeit von zwei Jahren oder darüber hinaus – wenn Mutter und Kind es wünschen. Aber trotzdem merke ich wieder, dass man doch öfter mal irritiert oder neugierig oder vielleicht auch empört angeschaut wird.
Dabei werden hier in Berlin viele Kinder länger gestillt als die durchschnittliche Stilldauer von 6,9 Monaten in Deutschland. Aber selbst mein geschätzter Kinderarzt teilte mir bei der U6 mit, dass ich ja nun nicht mehr stillen brauche. WHO-Empfehlungen gelten ja schließlich nicht für Industrieländer, war seine persönliche Idee. Der Babysohn, der damals knappe elf Monate alt war, wäre wohl recht empört gewesen, wenn ich dieser Empfehlung nachgekommen wäre.
Etwas anderes ist es, wenn das Abstillen von der Mutter gewünscht wird, was in unserem Fall aber nicht zutrifft. In dem Buch Stillen ohne Zwang von Sybille Lüpold ist mir in einem Kapitel der Begriff „Abstillzwang“ begegnet. Und ich kann vieles von dem dazu Geschriebenen nur bestätigen.
„Bei der Diskussion um den Stillzwang wird oft etwas Wichtiges vergessen: Während sich manche Mütter nach der Geburt ihres Kindes gedrängt fühlen, es zu stillen und dies als unangenehm empfinden, erleben stillende Mütter (zumindest im westlichen Kulturkreis) ein halbes Jahr später ein anderes Phänomen: Sie fühlen sich zunehmend unwohl, wenn sie ihr Kind an die Brust nehmen, und sie werden auf direkte oder subtile Weise zum Abstillen gedrängt.“
Stillen ohne Zwang, Sybille Lüpold
Mütter, die ihrem Kind sehr früh die Flasche geben, weil sie nicht stillen möchten oder können, erleben wohl ähnliches wie die Mutter, die über die „üblichen“ 6,9 Monate hinaus stillt. Irgendwie geben einem andere durch irritierte Blicke oder kritische Kommentare das Gefühl, etwas „falsch“ zu machen. Dabei fühlen sich wahrscheinlich die Mütter, die sich klar von Anfang an gegen das Stillen entscheiden haben, nicht so unwohl wie diejenigen, die unfreiwillig abgestillt haben.
Alle Mütter wollen das Beste für ihr Kind
Denn Frauen, die direkt nach der Geburt nicht stillen möchten, sind eine kleine Gruppe. Diese Frauen erlebe ich in der Regel im Einklang mit ihrem Baby und ihrer Entscheidung gegen das Stillen. Studien belegen, dass über 90 Prozent der Mütter initial nach der Geburt zu stillen beginnen. Doch schon nach wenigen Wochen stillen viele nicht mehr ausschließlich oder haben bereits ganz abgestillt.
Die dafür angegebenen Gründe sind vor allem das subjektive Gefühl, nicht mehr genug Milch zu haben, Brustprobleme oder wunde Mamillen. All dies sind klassische Situationen, in denen eine entsprechend versierte Hebamme oder eine Stillberaterin in der Regel schnell helfen kann. Diese Frauen haben oft keine Unterstützung erhalten, denn die Zufütter- oder Abstillempfehlung wird den Studien zufolge meist selbst getroffen und nicht von Fachpersonal angeraten. Der Anteil von Frauen, die aus körperlichen Gründen tatsächlich nicht stillen können, ist mit etwa zwei Prozent sehr klein.
Frauen, die sich also nicht aus freien Stücken, sondern aus einer problematischen oder schmerzhaften Situation heraus für das Abstillen entscheiden, sind verständlicherweise traurig. Sie fühlen sich vielleicht auch durch jeden Artikel verletzt, der die Vorzüge der Muttermilch erwähnt. Denn alle Mütter wollen das Beste für ihr Kind. Und auch wenn es keine Schuld der Mutter ist, dass sie vielleicht keine rechtzeitige Information oder Hilfe erhalten hat, haben viele Mütter schnell doch entsprechende Schuldgefühle. Das betrifft nicht nur das Thema Stillen…
Stillzwang nicht wirklich vorhanden
Wenn man sich also die durchschnittliche Stilldauer in Deutschland anschaut, ist der viel zitierte „Stillzwang“ scheinbar nicht wirklich vorhanden. Die fehlende Unterstützung scheint das viel größere Problem zu sein. Da mit zwölf Monaten bereits 92 Prozent der Kinder abgestillt sind, betrifft das Thema Abstillzwang momentan nur eine kleine Gruppe. Aber ich erlebe es auch in den Stillgruppen permanent, dass Frauen auf Kritik stoßen, wenn sie länger stillen.
Es sind seltener andere Mütter, sondern Familie, Freunde oder auch medizinisches Fachpersonal, die die längere Stillzeit in Frage stellen. Auch ganz fremde Leute mischen sich gerne mal in die Stillentscheidung ein. Wenn stillende Mütter sich über Schlafmangel oder Erschöpfung beklagen, wird dies fast immer in Zusammenhang gebracht. Dabei weiß doch jede Mutter und jeder Vater, dass die ersten Monate und Jahre mit Babys und Kleinkindern anstrengend und oft schlaflos sind. Ganz egal, ob gestillt oder Ersatznahrung gefüttert wird. Aber „Stillen ist an allem Schuld“ wird halt schnell daher gesagt.
„Wenn Mütter jedoch länger als sechs oder zwölf Monate stillen, werden sie mit einem anderen, unbedingt überdenkenswerten gesellschaftlichen Zwang konfrontiert: dem Abstillzwang. Es scheint paradox zu sein; zuerst fühlen sich manche Mütter zum Stillen gezwungen, Monate später werden sie davon abgehalten!…“
Stillen ohne Zwang, Sybille Lüpold
Und wieder muss man als Mutter zu der Erkenntnis kommen, dass man es wohl nie „richtig“ machen kann. Man stillt zu kurz oder zu lang… so richtig zufriedenstellend ist das wohl nie! Oder halt… hat mal jemand die Kinder gefragt?
Kein Anlass für Schuldgefühle
Die fühlen sich wohl, wenn sie von ihrer Mutter gerne und lange gestillt werden. Sie fühlen sich genauso wohl, wenn eine Mutter ihre eigene Abstillentscheidung trifft, bevor es das Kind von sich aus tun würde (was in der Regel nicht im ersten Lebensjahr der Fall ist). Sie sind vielleicht auch ein bisschen traurig, wenn es ihrer Mutter nicht gut geht, weil sie unfreiwillig abstillt. Aber sie sehen garantiert keinen Anlass für Schuldgefühle. Die Liebe zwischen Mutter und Kind bemisst sich ganz sicher nicht an der produzierten Muttermilchmenge.
Als Hebamme darf ich ganz lange oder auch ganz kurze Stillzeiten begleiten, aber vor allem Mütter und Kinder auf ihrem ganz persönlichen Weg, für den es nun mal keine einheitliche Empfehlung gibt. Ich wünsche mir aber, dass alle Mütter die Hilfe und Unterstützung bekommen, um ihre ganz eigene persönliche Entscheidung dazu treffen zu können.
Genauso wie keine Frau mit Unbehagen stillen soll, soll keine Mutter aus Schmerzen, Sorge ums Kind oder ganz falschen Empfehlungen heraus (zu früh) abstillen müssen. Die Mutter, die ihrem drei Monate altem Baby liebevoll das Fläschen füttert, soll sich genau wohl, kompetent und normal fühlen, wie die Mutter, die ihr zweijähriges Kind stillt. Denn fühlen sich die Mütter wohl, geht es auch ihren Kindern gut. Und das ist doch das Wichtigste am Ende…
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