Meine Mutter mag keinen Rosenkohl. Oder besser gesagt: Sie möchte ihn einfach nicht essen. Denn wahrscheinlich weiß sie gar nicht mehr, wie der eigentlich schmeckt. Als Kind wurde sie gezwungen, ihn unter dem Deckmantel des „Probierens“ zu essen. Seither hat sie für sich beschlossen, das nie mehr zu tun. Und niemand würde auf die Idee kommen, eine erwachsene, souveräne Frau dazu zu zwingen. Mittlerweile ist bei ihr sicher weniger der für Kinder bisweilen etwas bittere Geschmack des Rosenkohl die Ursache für ihre strikte Ablehnung. Sie ist kein Picky Eater, verbindet Rosenkohl aber in ihrer Erinnerung an das damit verbundene äußerst unangenehme Erlebnis am Esstisch.
Ich musste wohl deshalb als Kind nie etwas probieren, was ich nicht mochte. So habe ich nur kritisch am Esstisch meine Eltern beobachtet, wie sie beispielsweise begeistert Pilze in allen möglichen Zubereitungsvarianten aßen. Ich fand Pilze einfach nur ekelig. Aussehen, Farbe, Form, Geruch – alles hielt mich davon ab, sie auch nur in die Nähe meines Mundes zu lassen. Für meine Eltern war das kein Thema, genausowenig wie bei anderen Lebensmitteln, die ich kategorisch ablehnte. Schließlich gab es immer noch genug andere Sachen, die ich gerne aß. So, wie das bei den meisten etwas wählerischen Kindern der Fall ist.
Essen ohne Zwang
Weil es nie Stress am Esstisch gab und ich somit kein frühkindliches Pilztrauma hatte, wandelte sich meine fast zwanzig Jahre andauernde Aversion gegen Pilze später doch noch. Mittlerweile mag ich Pilze – je nach Zubereitung – sogar sehr gerne. Ich sehe deshalb den oft zu Kindern gesagten Satz „Aber Du musst wenigstens mal probieren“ sehr kritisch. Zumindest dann, wenn damit gemeint ist, dass das Kind zwingend etwas davon essen MUSS. Denn Probieren kann für Kinder ja auch einfach heißen: Sie schauen sich an, was da auf dem Teller liegt. Vielleicht untersuchen sie es auch genauer auf Form und Konsistenz. Auch die Farbe wird mit in die Bewertung einbezogen – das fade Pilzbraun etwa hat mich wohl nicht besonders angesprochen.
Kinder riechen, genau wie Erwachsene auch, am angebotenen Essen und befinden dann, ob es für sie in Frage kommt oder auch nicht. Erst danach werden sie es vielleicht in den Mund stecken und mit ihren noch wesentlich unverfälschteren Geschmacksknospen schmecken und zerkauen. Das wird das Geschmackserleben meist verstärken. Dann erst wird die Entscheidung zwischen runterschlucken oder doch wieder aus dem Mund befördern getroffen. Es ist ein ganz schön bedeutungsvoller Akt. Er sollte gerade von Kindern in der Esslernphase, aber auch über die Baby- und Kleinkindzeit hinaus, unbedingt selbstbestimmt stattfinden.
Evolutionsbiologischer Sicherheitsgeschmack
Zudem stecken die Kinder genau während der Esslernphase auch in einer Zeit stetig wachsender Autonomie. Gerade beim Essen kann die neue Selbstbestimmtheit gut ausgelebt werden. Der Einjährige fegt zum Beispiel das vom Teller geklaubte Gemüse mit Schwung vom Tisch. Anschließend wird genüsslich der Reis pur verspeist. Und keine Sorge, auch sehr mäkelige Esser werden nicht dauerhaft kategorisch ALLES ablehnen. Bei Kindern hat die so genannte Neophobie, also die „Angst vor neuen Lebensmitteln“, ja auch einen wichtigen evolutionsbiologischen Hintergrund.
Denn zu Zeiten, als wir uns noch das Essen direkt vom Baum oder Strauch gepflückt haben, war es sehr sinnvoll, dass sich das Baby oder Kleinkind nicht jedes Pflänzchen in den Mund steckte. Gerade Dinge, die eher sauer oder bitter schmecken, werden oft von Kindern abgelehnt. Süßlich schmeckende Nahrungsmittel sind in der Natur meist ungiftig und obendrein oft von einer hohen Nährstoffdichte. Da bereits die Muttermilch süßlich schmeckt, bezeichnet man süß auch als den „Sicherheitsgeschmack der Evolution“. Deshalb trauen sich Kinder eher an den Apfel als an den Rosenkohl heran. Aber auch bereits schon gern verspeiste Lebensmittel können auf einmal abgelehnt werden. Bei vielen Kindern wird die Lebensmittelauswahl ab ungefähr 18 Monaten zunehmend enger. Eben damit die immer mobiler werdenden einstigen Steinzeitkleinkinder nicht jedes Kraut und jedes Blatt einfach in den Mund stecken.
Picky Eaters
Eltern sollen und dürfen trotzdem weiter kochen und essen, was die Familienküche hergibt. Die Picky Eaters werden sich aus dem Angebot schon das herausfischen, was sie momentan mögen und brauchen. Untersuchungen zeigten, dass auch auch extrem wählerische Kinder genauso schnell wachsen wie „unkompliziertere“ Esser, wenn sie mengenmäßig ausreichend essen. Bisher abgelehnte Lebensmittel sollten immer wieder mal angeboten werden, da es bis zur Akzeptanz oft bis zu 15 Versuche braucht. Plötzlich schmeckt dem Kind ein bisher unbekanntes oder nicht mehr gemochtes Lebensmittel wieder. Im Alter von acht bis zehn Jahren werden Kinder meist generell wesentlich experimentierfreudiger.
Ich schreibe hier nicht nur theoretisch über die Picky Eaters, denn unsere eine Tochter war und ist auch immer noch eine sehr wählerische Esserin. An manchen Tagen hatten wir das Gefühl, dass ihr Speiseplan nur aus Haferflocken, trockenen Nudeln, und Rohkost besteht. Während die anderen Kinder auch immer mal offen für neue Gerichte waren, hat sie vieles ohne und auch mit Probieren kategorisch abgelehnt. Deshalb haben wir mal irgendwann zusammen alles aufgeschrieben, was sie so mag. Letztlich war von allem ein bisschen dabei und die Liste gar nicht so kurz wie gedacht. Allerdings darf bis heute das Ganze nicht zu sehr verkocht oder gar vermischt sein. Mit den Jahren sehen wir auch, wie sie ihr Spektrum erweitert – aber längst nicht so experimentierfreudig wie die anderen Geschwister.
Im Übrigen haben wir bei ihr nichts groß anders gemacht in Sachen Beikosteinführung oder beim Essen am Familientisch als mit den anderen Kindern. Natürlich entlastet es immer ein bisschen, wenn man sieht, dass die Geschwister trotz fast identischer Bedingungen sehr unterschiedlich agieren. Es ist also nicht unsere „Schuld“, dass ein Kind weniger experimentierfreudig in Sachen Essen ist als das andere. Unser Einfluss als Eltern ist ein vielen Bereichen doch wesentlich geringer als wir so denken. Dennoch ist es natürlich schön, wenn Eltern mit gutem Beispiel voran gehen und selbst die Mahlzeiten am Familientisch mit Freude essen.
Selbstbestimmtes Essen
Viele Kinder haben phasenweise doch eine recht eingeschränkte Lebensmittelauswahl. Der Zwang, Rosenkohl, Broccoli oder den Harzer Käse zu probieren, wird dieses Spektrum nicht unbedingt erweitern. Gerade Kleinkinder wollen zunehmend selbstbestimmter agieren und dazu gehört für sie auch, eigenständig zu bestimmen, was und wie viel von etwas gegessen wird.
Zudem ist in vielen Familien das Essensangebot jedoch recht breit gefächert. Wir kochen mediterran, asiatisch und dann wieder Omas uralten Graupeneintopf. Für den kindlichen Gaumen sind das oft ganz schön viele Herausforderungen und so suchen sich viele Kinder gerne ihre „sicheren“ Lebensnmittel aus, während ein paar andere sich durchaus auch für die Süß-Sauer-Suppe begeistern. Es ist deshalb eher unrealistisch zu erwarten, dass Kinder alles „wenigstens mal probieren“ müssen. Müssen sie nicht!
Probieren im Kontext Essen heißt deshalb erst einmal, sich die Sache anzuschauen und nach eigenen Parametern zu überprüfen. Kinder sollen das Essen fühlen, riechen und eventuell auch schmecken. Also sollen sie das Essen studieren und vielleicht probieren – und darüber MUSS jeder selbst bestimmen dürfen. Große kulinarische Entdeckungen können auch noch später gemacht werden. Manchmal dauert es auch zwanzig Jahre, so wie bei mir und den Pilzen…
Anmerkung: Ich spreche hier übrigens immer von Kindern ohne gesundheitliche Beeinträchtigen oder Besonderheiten, die mit dem Thema Essen verknüpft sind. Eine (früh-)kindliche Esstörung unterscheidet sich deutlich von dem Verhalten der wählerischen Esser (Picky Eaters). Betroffene Kinder und ihre Eltern benötigen professionelle Unterstützung. Bei diesbezüglichen Sorgen ist es deshalb immer besser, sich Rat oder Hilfe zu holen, als auf Dauer besorgt und gestresst am Esstisch zu sitzen.
Dieser Beitrag wurde aktualisiert im Juni 2017
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