In ihrem Artikel „Nicht nur schlagen ist Gewalt“ schrieb Susanne vor zwei Tagen über Kinderrechte verletzende „Erziehungsmethoden“, von denen eine sogar tödlich für das Kind endete. Da sie dieses furchtbare Ereignis zeitgleich mit der Chilischoten-Erziehungs-Aktion des britischen Starkochs Jamie Oliver nannte, wurde in so einigen Kommentaren kritisiert, dass die Chili-Aktion doch nicht vergleichbar und auch nicht so schlimm wäre. Der Fernsehkoch hatte zur Bestrafung für „respektoses Verhalten“ seiner Tochter heimlich einen Apfel mit einer extrem scharfen Chilischote eingerieben und ihn ihr zu essen gegeben.
Ich persönlich musste dabei als erstes an eine Geschichte denken, die mir mein Vater aus seinem Berufsleben erzählt hatte. Ein Kollege, der zuhause im Garten selbst sehr scharfe Chilis züchtete, legte eine davon heimlich einem anderen Kollegen auf das zugeklappte Brot. Was als schlechter Scherz und nicht etwa als Racheakt gedacht war, führte zu einem Kreislaufzusammenbruch und anschließender Fahrt mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus. Sehr schlecht fühlten sich hinterher also beide Kollegen. Sicherlich wird das Jamie Oliver niemals beabsichtigt haben – die Gefahr einer solchen Reaktion, gerade bei einem Kind, sollte ihm gerade als Koch aber durchaus bewusst sein.
Das Recht auf gewaltfreie Erziehung
Bei vielen der Kommentare zum Stern-Artikel, aber auch zu Susannes Posting, ging es darum, dass es ja wohl schlimmere Strafen oder Gewalttaten gegen Kinder gäbe. Der beschämende und das Vertrauen verletzende Aspekt für die Tochter wurde meist gar nicht erst erwähnt. Diese Gewichtung von Gewalt gegen Kinder ist das, was mich sehr schockiert hat. Wie schnell sind wir mit so einem Denken wieder bei der „Das war doch nur ein Klaps oder eine Ohrfeige“-Rechtfertigung?
Obwohl seit 2000 klar festgelegt ist, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben, klafft scheinbar nach wie vor eine große Lücke zwischen Theorie und Praxis. Ist die Novellierung des § 1631 Abs. 2 BGB, des so genannten „Züchtigungsparagraphen“, wirklich an so vielen Menschen vorbeigegangen? Seit November 2000 gilt: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig“.
Doch nach wie vor werden Kinderrechte verletzende Erziehungsmaßnahmen noch immer kategorisiert. Doch es gibt keine gute oder schlechte Gewalt. Wenn ich mich körperlich oder seelisch an einem schutzbedürftigen Kind vergreife, ist das immer schlimm. Punkt. Natürlich haben manche Gewalttaten sicher schlimmere Auswirkungen oder führen im ganz tragischen Fall sogar zum Tod. Aber auch psychische Gewalt gegen Kinder kann dazu führen, dass die Seele des Kindes innerlich großen Schaden nimmt. Hier sehen wir vielleicht keine körperlichen Spuren – und doch ist dies kein bisschen weniger schlimm.
Es gibt keine bessere und schlechtere Gewalt
Ich glaube, fast alle Eltern kennen Situationen, in denen sie mit zu großer Aggressivität gegenüber ihren Kindern agieren. Sei es in Form von Anschreien, tatsächlichem Schlagen oder selbst dem viel zu grob am Arm gezogenen Kind. Die meisten Eltern erschrecken sich sehr, wenn dies passiert und nehmen es im besten Fall als Anlass zu erkennen, dass sie überfordert sind und eventuell Hilfe brauchen. Es ist ja auch wahrlich nicht einfach, wenn man selbst eine sehr gewaltvolle Erziehung als Kind erlebt hat, sich nun auf andere Strategien einzulassen. Oder sich diese überhaupt erst einmal zu erarbeiten, wenn man nie etwas andere kennengelernt hat.
Gerade in Stresssituationen greifen wir auf alte in uns etablierte Verhaltensmuster zurück. Das kennt jeder, der mal versucht hat, das Rauchen oder einen zu hohen Süßigkeitenkonsum einzustellen. Unter Stress und Druck braucht es dafür eine extrem hohe Selbstdisziplin. Aber gerade Eltern, die diese Verhaltensmuster als Resultat einer eigenen gewaltvollen Kindheit in sich tragen, müssen sich als erstes bewusst darüber sein, das Gewalt in jeglicher Form Kinderrechte verletzt und den Kindern nachhaltig schadet.
Und deshalb ist es für mich so unbegreiflich, dass Jamie Oliver selbst und leider viele andere diese Aktion als „nicht so schlimm“ oder „ist doch nichts passiert“ einstufen. Oft wird auch argumentiert, dass die Kinder ja heutzutage völlig aus dem Ruder laufen, weil man sie bei „Fehlverhalten“ nicht mehr entsprechend bestrafe. Doch ich bleibe ganz klar dabei: Es gibt keine bessere und schlechtere Gewalt. Gerade jemand, der in der Öffentlichkeit steht, kann doch deshalb nicht ernsthaft Dinge sagen wie: „Poppy war ziemlich respektlos und frech zu mir und hat ihr Schicksal herausgefordert. Früher hätte ich ihr die Leviten gelesen, aber das ist nicht erlaubt. Also gab ich ihr Chili zur Strafe. Fünf Minuten später, als sie dachte, ich hätte es vergessen, fragte sie mich nach einem Apfel. Ich schnitt ihn in Stücke, rieb ihn mit Scotch Bonnet ein und es funktionierte…“
In diesem Satz ist so viel Respektlosigkeit dem Kind gegenüber zu erkennen – also genau das, was für ihn Anlass zu dieser Aktion gegen seine Tochter war. Was daran jetzt genau funktioniert hat, frage ich mich übrigens noch immer.
Erziehung ist Beispiel und Liebe
„Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts“, sagte bereits der Pädagoge Friedrich Fröbel und bringt es damit auf den Punkt. Dazu gehört sicher auch, dass wir als Eltern manchmal „versagen“, in dem wir unsere Kinder doch anschreien oder unfair behandeln, weil wir unseren eigenen Stress nicht geregelt bekommen. Doch die Konsequenz daraus kann und darf nicht sein, dass ich mir das Ganze schön rede, um mich besser zu fühlen. So unterstelle ich auch mal Herrn Oliver, dass er nicht völlig empathielos seinen Kindern gegenüber ist. Wahrscheinlich hat er sich erhofft, als er von dieser Bestrafungsaktion in einer BBC-Talkshow erzählte, dass die Leute es lustig finden und ihm zustimmen würden. Und dass das doch zumindest „netter“ als Schlagen ist. Denn gerade wenn wir uns falsch unseren Kindern gegenüber verhalten, wäre es manchmal so schön einfach, wenn jemand käme und sagt: „Das hast du doch gut gemacht.“ Auf dass das innere schlechte Gefühl, welches wir eigentlich damit haben, schnell verschwindet.
Sehen wir doch das schlechte Gefühl lieber als Barometer dafür, dass das Verhalten unserem Kind gegenüber falsch war. Und als Chance, Dinge viel besser zu machen und ziehen die richtigen Konsequenzen daraus. Eine aufrichtige Entschuldigung und dem Kind zudem erklären, dass der Fehler bei uns liegt und nicht beim Kind. Denn Kinder, die bestraft werden, denken meist leider nicht „doofe, überforderte Eltern“, sondern fragen sich als erstes, was sie wohl falsch gemacht haben. Im Übermaß schwächt dies nicht nur das Selbstwertgefühl der Kinder schwer und nachhaltig.
Ich kenne den Beziehungs- und Erziehungsalltag der Familie Oliver nicht. Aber ich gehe mal davon aus, dass Töchterchen Poppy ihm diese dämliche Aktion sicher verziehen hätte, wenn er sich einfach aufrichtig bei ihr entschuldigt hätte statt das Ganze noch öffentlich zu „zelebrieren“. Alle wären froh gewesen, dass nichts passiert ist und die Eltern hätten sich wieder daran erinnert, dass auch Zwölfjährige einfach Kinder sind, an deren Verhalten wir nicht die gleichen Erwartungen haben dürfen wie an das von Erwachsenen. Und daran, wie wir ihnen dabei helfen können, gute Strategien im nicht immer einfachen Miteinander zu finden. Durch Liebe und Vorbild – und niemals durch Gewalt.
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