„Wenn sich die Mutter bei der Erziehung ihres Säuglings ganz von ihrem Instinkt und ihrer Liebe zu ihm leiten ließ, so würde sie sich wahrscheinlich weit mehr und zu anderen Zeiten um ihr Kind kümmern. Welche junge Mutter möchte nicht gern nachts sofort ihr Kindchen aus dem Bett nehmen, wenn es schreit, es an die Brust anlegen oder wenigstens trockenlegen? Wer möchte nicht gern so oft wie möglich am Tage mit seinem Kinde spielen? Der Säugling würde dabei mit Gewissheit Schaden leiden.
Zum großen Kummer der Mutter würde dieses Kind sehr bald ein schlechtes Gedeihen zeigen, trotz aller sorgfältigen Pflege und einer altersentsprechenden Ernährung. Es würde blass und appetitlos werden und sehr oft erbrechen. Wenn es nicht sofort seinen Willen bekäme würde es wütend und ungeduldig schreien. Es könnte durch das Schreien sogar Wutkrämpfe bekommen […] Der Säugling kann sich dadurch zum Haustyrannen entwickeln, die übrigen Familienangehörigen und der Haushalt werden nur ungenügend versorgt, weil die Mutter schließlich nur noch für den Säugling da sein muss.“
Als meine Freundin vor knapp 40 Jahren geboren wurde, hat man ihrer Mutter im Krankenhaus das Buch „Mutter und Kind – ein praktischer Ratgeber“ aus dem Bertelsmann Verlag von 1971 (Erstauflage 1956), geschrieben von Dr. med. Hannah Uflacker, in die Hand gedrückt. Darin steht wirklich alles, was man über die „Aufzucht“ von Babys wissen muss. Auch die gerade zitierte Passage.
Aber das Buch verspricht auch Abhilfe, wenn dieser Zustand – verursacht durch eine vermeintliche Fehlerziehung – dann eingetreten ist.
„Ist er erst einmal fest eingefahren, so erfordert es oft eine monatelange Behandlung in einem gut geleiteten Kinderheim oder einem Kinderkrankenhaus, um die Folgen dieser fehlerhaften Erziehung auszumerzen.“ Das Buch ist seitenweise voll mit grausamen Empfehlungen wie: „Gewiss kann und darf die Mutter, insbesondere im 2. Lebenshalbjahr, mit ihrem Kinde einmal spielen, aber immer nur im Zusammenhang mit den Pflegemaßnahmen (Trockenlegen und Füttern). In den Zeiten dazwischen soll sich das Kind in seinem Bettchen und später in seinem Laufställchen selbst überlassen bleiben.“
Gegen das Gefühl der Eltern und die Bedürfnisse des Kindes…
Natürlich denkt man jetzt vielleicht, Empfehlungen dieser Art sind lange her und so denkt doch heute niemand mehr. Aber wenn man sich Bücher wie „Jedes Kind kann schlafen lernen“ anschaut, wird man erschreckend viele Parallelen feststellen. Teilweise empfohlen von Leuten, mit denen vielleicht genauso wie eingangs beschrieben als kleines Kind umgegangen wurde und die dies scheinbar sogar als artgerechtes Verhalten betrachten. Mittlerweile weiß man so viel über die Auswirkungen von Stress auf Babys – ja, ganz alleine und ohne Resonanz schreien zu müssen ist großer Stress für ein Kind. Die Bindungsforschung hat längst belegt, wie wichtig verlässliche Eltern für die Bindungssicherheit der Kinder sind.
Trotzdem läuft dann im Jahr 2013 bei Stern TV auf RTL ein Bericht, der das längere Alleinlassen eines schreienden Kindes als Therapie für ein Schreibaby zeigt. Die dort gezeigte Mutter darf erst wieder zu ihrem kleinen Baby, wenn es von selbst aufgehört hat zu weinen. Eltern, die ein „Schreibaby“, also ein Kind mit hohen Bedürfnissen haben, sind ohnehin schon sehr verunsichert in ihrer Elternrolle und in ihrer Verzweiflung auch oft sehr empfänglich für Empfehlungen aller Art.
Aber derartig gegen das Gefühl der Eltern und die Bedürfnisse des Kindes zu handeln, das kann und darf kein Weg sein, der auch noch von „Experten“ empfohlen wird. Die in dem Bericht zu Wort kommende Mitarbeiterin einer Schreiambulanz, eine Sozialpädagogin, ist für diese verzweifelten Eltern nun mal die Expertin. Nie wieder sind Menschen so leicht empfänglich für Empfehlungen, wie in der Zeit des Elternwerdens. Das weiß die Werbeindustrie und das wissen auch alle anderen, die mit Kindern arbeiten.
Gegen das Bauchgefühl handeln
Sätze beginnend mit „Meine Hebamme hat gesagt…“ lassen sich wahlweise austauschen mit „Mein Kinderarzt, mein Gynäkologe, mein Osteopath, meine Schreibabytherapeutin hat gesagt…“
Eltern vertrauen gerade in anstrengenden Situationen darauf, was die Experten sagen. Dies ist eine enorm hohe Verantwortung, die nicht dazu genutzt werden sollte, brachiale Methoden überzustülpen. Und ja, es ist brachial, einem Baby mit hohen Bedürfnissen durch Schreien lassen ohne Begleitung dieses „abgewöhnen zu wollen“. In dem gezeigten Bericht wurde den Eltern vermittelt, das Schreien sei ihre Schuld, weil sie das Kind zu oft hochnehmen oder füttern. Ganz ähnlich wie in dem eingangs zitierten Buch. Eine Entlastung der Eltern, Tragen, Entspannungstechniken, eine Bearbeitung der traumatischen Geburt, Arbeit an der Eltern-Kind-Beziehung – all diese Punkte sind somit scheinbar erst gar keine Option.
Wie schön wäre es im Leben mit Kindern, wenn es immer eine ganz einfache Lösung gäbe? Aber das ist nur selten der Fall, weil wir es mit Menschen und nicht mit defekten Autos zu tun haben. Wenn man das Kind immer wieder alleine schreien lässt, gibt es wahrscheinlich irgendwann resigniert auf. Gelernt hat es dabei aber nur, dass es nichts bringt, zu schreien, weil ohnehin keiner kommt. Und die Eltern haben höchstens gelernt, gegen ihr Bauchgefühl zu handeln.
Alle wollen das Beste für ihr Kind
Genauso werden uns unsere größeren Kinder irgendwann nicht mehr um Hilfe bitten, wenn wir sie immer wieder wegschicken. Ja und dann hat man plötzlich mehr Zeit für den Haushalt, den Job, zum Mails checken oder was auch immer. Aber ist es das, was das Leben mit unseren Kindern ausmacht? Erinnere ich mich später an die gemachte Wäsche und die aufgeräumte Wohnung oder doch daran, wie wir zusammen hundertmal das Schleifebinden geübt haben und wie stolz das Kind war, als es dann endlich klappte? Kinder kosten Zeit und Kraft und Nerven – aber es ist und bleibt wahrscheinlich die sinnvollste Investition überhaupt.
Wenn unsere Kinder am anstrengendsten sind, brauchen sie uns in der Regel am meisten und wir Eltern brauchen Menschen, die uns unterstützen. Auf dem eigenen und individuellen Weg. Darum wird kein Handbuch und kein Experte letztlich wissen, was gerade genau gut für uns und unsere Kinder ist. Aber wenn sich Empfehlungen dermaßen gegen das mütterliche (und natürlich auch väterliche) Grundgefühl zum Kind richten, sollte man die Expertentipps sehr genau unter die Lupe nehmen.
Mehr als starre Mahlzeiten
Denn: Babys und Kinder brauchen mehr als starre Mahlzeiten und routinierte Körperpflegemaßnahmen. Gerade das ist aber auch der Part, der das Leben mit Kindern bunt, schön und nie langweilig macht. Elternratgeber und Fachleute können wertvolle Denkanstöße geben, wenn uns unsere Kinder an eigene Grenzen bringen oder wir einfach unsicher sind. Sie sind aber niemals kompetenter für unser Kind als wir selbst.
Auch bei mir in meiner Arbeit als Hebamme müssen die Eltern mitdenken. Natürlich gibt es zu vielen Babythemen mittlerweile evidenzbasiertes Wissen – zumindest solange, bis jemand die Gegenthese nebst passender Studie erhebt. Aber machen wir uns nichts vor: Im Elternalltag geht es ständig um Entscheidungen. Das fängt in der frühen Schwangerschaft an, wenn es um die Pränataldiagnostik oder die Geburtsortwahl geht. Und es wird wohl nicht enden, bis das Kind volljährig zumindest juristisch seine komplett eigenen Entscheidungen treffen darf.
Die Idee, die alle Eltern in ihrem Tun treibt, ist immer die Gleiche. Alle wollen das Beste für ihr Kind. Am besten wir hören dabei auf unser Herz und unser Kind, dann haben schlechte Bücher und TV-Beiträge am wenigsten Einfluss. Die Mutter meiner Freundin hat den praktischen Babyratgeber von 1971 übrigens auch weitestgehend ignoriert – alles richtig gemacht – und das schon damals.
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