Ein viel weinendes oder schreiendes Baby ist eine enorme Herausforderung für Eltern. Da liegt dieser kleine Mensch, auf den wir uns vielleicht so sehr gefreut haben, dessen Geburt wir ersehnt haben, in unseren Armen und weint und schreit. Von der Vorstellung über das erste Zusammensein mit dem Baby ist die Realität plötzlich oft weit entfernt.
Nicht nur den Alltag haben sich Eltern von viel weinenden Babys oft anders vorgestellt, sondern auch ihre Gefühlswelt. Sie wollten diesem Baby schließlich Wärme, Geborgenheit, Zufriedenheit, Glück schenken. Aber nun fühlt es sich so an, als würde dieser Wunsch beim Kind nicht ankommen und das Kind vielleicht sogar unglücklich sein. Oft fühlen Eltern, dass sie ihr Baby einfach nicht verstehen?
Die Gründe für das viele Weinen oder Schreien eines Babys sind dabei äußerst vielfältig. Sie müssen nicht zwangsweise mit dem Verhalten der Bezugspersonen zusammenhängen. Manche Babys reagieren besonders sensibel auf die Umstellung von der Erfahrungswelt im Uterus auf die neue Umgebungswelt mit ihren vielen Reizen.
Babys haben verschiedene Temperamente
Gerade eben noch wurde das Baby warm umhüllt geschaukelt im Fruchtwasser und nach Bedarf genährt bei ständigem Körperkontakt. Nun erlebt es nun zum ersten Mal, wie sich Stoff auf der Haut anfühlt, wie unterschiedliche Lichtquellen auf es einströmen, verschiedenste Geräusche und Stimmen zu hören sind und vieles andere mehr.
Das ist eine große Umstellung, die einigen Kindern mehr Schwierigkeiten bereitet, anderen weniger. Kinder kommen mit unterschiedlichen Temperamentsdimensionen auf die Welt, wie schon in den 1970er Jahren in Untersuchungen festgestellt wurde.
Die Psychiater*innen Alexander Thomas, Stella Chess und Herbert Birch entdeckten in Studien neun Temperamentsdimensionen, die über das Leben relativ stabil bleiben. Die von ihnen untersuchten Kinder teilten sie in die Kategorien „easy-to-handle“, „hard-to-handle“ und „slow-to-warm-up“ ein. Etwa 20 Prozent der Kinder bringen ein in diesem Kontext „schwierigeres Temperament“ mit ins Leben.
Signale zu verstehen müssen Eltern erst lernen
Hinzu kommt noch, dass Elternsein erst gelernt wird. Es gibt nur wenige intuitive Verhaltensweisen, die alle Menschen – unabhängig von Alter und Geschlecht – gegenüber Babys zeigen. Das meiste wird erst durch das Miteinander gelernt. Das ist in Anbetracht der schon erwähnten Unterschiedlichkeit auch sehr sinnvoll, da Eltern sich so auf genau das Kind einstellen können, das da zu ihnen gekommen ist.
Gerade am Anfang kommt es hier auch zu Missverständnissen. Viele Eltern müssen erst lernen, ihr Baby richtig zu lesen. Haben sie vorher noch keine großen Erfahrungen im Zusammensein mit Babys gesammelt durch jüngere Geschwister, andere Familienmitglieder oder Babysitting, kann dieser Lernprozess eine größere Herausforderung sein. Dies gilt umso mehr, wenn andere Familienmitglieder sie weniger in Feinfühligkeit unterstützen, sondern längst überholte Falschinformationen weitergeben.
Die falschen Informationen reichen von dem Hinweis, man solle nicht auf jeden Piep reagieren und das Baby nicht ständig hochnehmen bis hin zum Ratschlag, das Baby auch mal weinen zu lassen, damit es lernt, sich zu beruhigen. Solche Informationen halten sich weiter hartnäckig, obwohl viele Studien bewiesen haben, dass ein solches Verhalten mehr schadet, als nutzt. Es führt übrigens keineswegs zu verzogenen Kindern, sondern vermittelt dem Kind ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen, das die Bindungsbeziehung stärkt.
Körperliche Ursachen für das Weinen
Aber auch andere Faktoren können dazu führen, dass das Baby viel weint: Die Geburt kann eine größere Herausforderung gewesen sein – nicht nur für die Gebärende und andere anwesende Personen, sondern auch für das Kind. Wir wissen nicht, wie die Wahrnehmungswelt des Babys unter der Geburt genau aussieht und was es fühlt. Aber wir können davon ausgehen, dass auch schon bei der Geburt Stress und unangenehme Affekte wahrgenommen werden können, die das Baby noch nicht zuordnen kann.
Manchmal tragen Babys durch die Geburt körperliche oder auch affektive Belastungen in sich, die erst nach und nach auskuriert werden. Daneben führen auch akute Schmerzen zum Weinen des Babys: Es können Unverträglichkeiten vorliegen, Infekte, Zahnungsbeschwerden, eine Darmeinstülpung oder andere organische Erkrankungen – oder auch schlicht und einfach Hunger.
Der erste Schritt zur Klärung sollte daher eine medizinische Untersuchung in der kinderärztlichen Praxis sein. Hier können medizinische Ursachen ausgeschlossen und eine weiterführende Unterstützung beschlossen werden. Während es vor einigen Jahren noch eine Regel gab, dass als Schreibaby nur ein Kind gilt, welches mehr als drei Stunden am Tag, an mindestens drei Tagen in der Woche über mindestens drei Wochen schreit, wurde diese Regel glücklicherweise mittlerweile abgeschafft.
Unterstützung holen, um sichere Bindung zu ermöglichen
Die Belastungssituation der Eltern ist ausschlaggebend, nicht die genaue Anzahl der Schreistunden. Wenn Eltern sich durch das viele Schreien des Kindes körperlich und/oder emotional besonders belastet fühlen, brauchen sie schnell Hilfe und Unterstützung. Dabei ist nicht wichtig, wie andere Menschen die Situation einschätzen, sondern wie die Bezugspersonen des Babys sie wahrnehmen. Denn auch hier gilt: Wir sind alle unterschiedlich. Und für einige Eltern ist ein Weinen anstrengend, das für andere noch als erträglich gilt. Das sagt nichts über die Qualität der Elternschaft aus, sondern ist einfach eine höchst individuelle Unterschiedlichkeit.
Dass die ganz persönliche Belastungssituation der Eltern als Referenz für Unterstützung genommen wird, ist dabei sehr wichtig für den Aufbau der Eltern-Kind-Beziehung. Wird ein Baby als schwierig wahrgenommen und erleben Eltern, dass sie die Bedürfnisse des Kindes nur schwer befriedigen können, kann es schwer fallen, eine sichere Bindungsbeziehung zum Kind aufzubauen.
Kinder mit einem „schwierigeren Temperament“ laufen häufiger Gefahr, andere Bindungsmuster zu verinnerlichen. Denn hier ist die Eltern-Kind-Interaktion gestört. Beratung und Therapien können hier allerdings sehr hilfreich sein und sichere Bindung trotz Belastung ermöglichen. Für die weitere Entwicklung des Kindes ist es bedeutsam, mindestens zu einer Bezugsperson eine sichere Bindungsbeziehung aufbauen zu können.
Langfristige und kurzfristige Hilfen
Eltern von viel weinenden Babys können bei Familienhebammen und Beratungsangeboten der Emotionalen Ersten Hilfe vielfältige Unterstützung erhalten. Über mehrere Termine wird ausführlich auf die Ursachen des Weinens geblickt. Es werden Strategien für das Baby aber vor allem auch für die Eltern besprochen. So können sie diese Phase des Elternseins gut durchstehen. Sowohl Gesprächsangebote als auch Körperarbeit und der Umgang mit den starken Gefühlen von Überforderung und auch Wut stehen dabei im Fokus.
In akuten Überforderungssituationen ist es vollkommen okay, das viel weinende Baby sicher abzulegen und sich auch einmal von ihm zu entfernen, um sich selbst zu beruhigen. Es ist eine extreme Belastungssituation, die durch Weinen und Schreien entsteht. Diese ist manchmal so überfordernd, dass Eltern den Impuls haben, das Baby zu schütteln. Dies muss unbedingt vermieden werden, da das Schütteln lebensgefährlich ist.
Das Ablegen des Babys ist daher eine sinnvolle Strategie. Vom Baby entfernt kann dann eine befreundete, wohlwollende Person angerufen werden. Oder die Verzweiflung kann im Bad einmal herausgeschrien werden. Oder man setzt bzw. legt sich einmal kurz auf den Boden, um die körperliche Anspannung loszulassen und tief durchzuatmen. Auch etwas kalte Luft am Fenster oder ein Glas Wasser, das in Ruhe mit kleinen Schlucken getrunken wird, kann zur Beruhigung beitragen.
Es braucht ein Dorf…
Wer ein weinendes Baby begleitet und weniger stark überlastet ist, kann auch Kopfhörer nutzen, um das Weinen etwas zu dämpfen und damit die Belastung etwas zu reduzieren, während das Baby vielleicht in der Trage oder den Armen gewiegt wird.
Wichtig ist, dass Eltern Pausen haben, um sich zu erholen. Das bedeutet, dass sie sich selbst Pausen nehmen und auf ihre Bedürfnisse achten. Es heißt aber auch, dass sie aktive Unterstützung von Außen bekommen. Familienhebammen und Therapeutinnen können beim Umgang mit dem Baby helfen. Aber es braucht auch Unterstützung im nahen Umfeld, um Eltern zu entlasten.
Da viel Emotionsarbeit für das Baby notwendig ist, steht für andere Dinge oft weniger Kraft zur Verfügung. Freunde und Familien können gut und einfach helfen. Einkäufe vorbeibringen, Power-Riegel oder -Kugeln und vorgekochtes Essen – das kann nicht nur im Wochenbett eine Unterstützung sein, sondern auch bei Eltern viel weinender Babys etwas Entlastung bringen.
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