In einer Rezension zu unserem Wochenbettbuch stand geschrieben, dass die Leserin sich das Buch inhaltlich etwas positiver wünschte. Gemeint war damit, dass wir mehrmals betonen, dass die ersten Wochen nach der Geburt auch eine anstrengende und kraftraubende Zeit sein können. Sicherlich kann einem das gerade beim ersten Kind vielleicht etwas in der Vorfreude auf die Zeit irritieren. Aber wie viel häufiger hört und liest man nach Geburten den Satz: „Warum hat uns das keiner gesagt?“.
Hier auf dem Blog versuchen wir auch immer die Balance zwischen den wunderschönen aber auch sehr anstrengenden Momenten des Kinderkriegens und Kinderhabens zu halten. Aber beide Ebenen existieren ja nun mal auch in der Realität. Nun gibt es ja gerade in den sozialen Medien die Aufforderung von Kritikern nach mehr realistischen Inhalten, gerade bei Elternblogs. Unter dem Hashtag #mehrrealitätaufinstagram wird dazu aufgefordert, nicht immer nur „schöne Bilder“ zu posten. Doch was ist eigentlich „schön“? Was ist die „Realität“?
Würde ich hier von meinen Erfahrungen ausgehen, sind Schwangerschaft und Geburt in der Regel sehr schöne und kraftvolle Zeiten im Leben einer Frau. Auch das Schwangerwerden selbst ist in aller Regel relativ unkompliziert. Vielleicht gibt es beim ersten Kind noch ein paar Stillprobleme. Aber insgesamt ist es doch schön, ein Baby und später das Kleinkind über einen längeren Zeitraum zu stillen. Stellen sich also alle Frauen einfach nur an, die eine Schwangerschaft als eine große Belastung empfinden? Haben sich Frauen, die nach etlichen Wehenstunden doch einen Kaiserschnitt bekommen, sich nur nicht genug angestrengt? Und wer nicht stillt, kommt ohnehin in die Mütterhölle…
Realität ist immer eine Vielfalt
Natürlich stimmt das alles nicht. Denn neben meinem eigenen Weg gibt es unendlich viele andere Wege, die alle ihre Berechtigung haben. Ich bin dankbar, als Hebamme das Muttersein in so vielen Facetten schon kennengelernt zu haben. Nach über fünfzehn Berufsjahren denke ich manchmal, bereits alles gesehen zu haben. Doch immer wieder kommt etwas Neues dazu. Und all dies ist die Realität.
Die Eltern in der perfekt eingerichteten Designerwohnung sind genauso Eltern wie jene, die sich ein WG-Zimmer mit dem Baby teilen. Die Mutter-Vater-Kind-Familie ist genauso eine wie die Mutter-Mutter-Kind-Familie. Oder wie die Single-Mom, die ihr Kind mit Hilfe einer Samenspende empfangen hat. Es gibt Alleinerziehende, Großfamilien, Patchworkmodelle oder Adoptivkinder. Manche Eltern bekommen Zwillinge, Drillinge oder Kinder mit besonderen Herausforderungen. Alles das ist Realität.
Da sind Mütter, die drei Jahre zu Hause bleiben und andere, die drei Wochen nach der Geburt wieder zu arbeiten beginnen. Es gibt Schwangere, die eine Alleingeburt planen und ebenso solche, die sich für einen primären Kaiserschnitt entscheiden. Ich kenne Mütter, die ihre Babys ausschließlich tragen, nur den Kinderwagen benutzen oder beides mischen. Auch das ist völlig realistisch. Und bezüglich des Stillens gibt es sowieso 1001 Wege, wie man es machen kann.
Realität ist immer eine Vielfalt
All dies und noch viel mehr ist die Realität. Genauso unterschiedlich sind übrigens auch Elternblogs. In manchen findet man sich selbst wieder, in anderen überhaupt nicht. Auch was und wie viel Eltern öffentlich zeigen oder schreiben, ist so verschieden wie die Eltern es selbst sind. Die Realität ist immer eine Vielfalt. Die Realität hat Platz für wunderschön inszenierte Regenbogentorten, aber auch für überquellende Abwaschbecken. Die Realität gibt den Raum für eine Geburt unterstützt durch im Hypnobirthingkurs erlerntes positives Denken oder auch durch eine Peridulanästhesie. In der Realität kann ein Baby Brei als erste Beikost bekommen oder komplett auf püriertes Essen verzichten.
Wenn jemand realistisch über das Elternsein reden oder schreiben will, ist es wohl am wichtigsten, den Raum für eigene Gedanken und Wege beim Leser offen zu lassen. Auch als Hebamme kann ich keiner Frau sagen, wie ihre Geburt und ihr Wochenbett letztendlich werden wird. Viele Aspekte betreffen sicherlich fast alle Familien – egal wie die äußeren Umstände sind. Trotzdem entscheiden am Ende immer die individuelle Situation und die persönlichen Ressourcen, wie das Befinden in einer bestimmten Zeit sein wird.
Die Frage „Warum hat uns das keiner vorher gesagt?“ lässt sich also ebensowenig beantworten wie ein Hashtag auf Instagram dazu führen wird, dass sich darunter nun alle Menschen in den gezeigten Fotos wiederfinden werden. Das Leben ist bunt. Und das Familienleben ist es erst recht.
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