Paare in der Kinderwunschzeit haben diesen Spruch vielleicht sogar schon vor der Geburt eines Kindes gehört. Nämlich dann, wenn sie Familie und Freunden anvertraut haben, dass sie schon recht lange auf ein Baby warten und es bisher nicht geklappt hat. Oft kommt dann der Tipp: „Ihr müsst euch einfach nur mal entspannen.“ Oder gleich die konkrete Empfehlung, doch einfach mal in den Urlaub zu fahren. Dann würde das schon klappen mit dem Baby. Gerade Paare, die schon viele Mühen und Sorgen für ihren Kinderwunsch auf sich genommen haben, werden diesen Satz hassen. Wenn es doch nur so einfach wäre…
Doch auch nach der Geburt eines Kindes gibt es oft klugen Rat. Eltern sollen sich doch einfach nur mal etwas locker machen, wenn es mit dem Kind gerade sehr anstrengend ist. Klar, natürlich tut es den Kindern oft gut, wenn wir Eltern möglichst gelassen sind. Doch das wissen die meisten Eltern selbst. Tragisch wird es immer dann, wenn beispielsweise Müttern mit Stillschwierigkeiten gesagt wird, dass diese nur daraus resultieren, dass sie nicht entspannt genug sind. Ich kann versichern, dass fast alle Mütter mit Stillproblemen ohnehin die Schuld primär bei sich suchen. Das passiert bereits ohne Schuldzuweisungsspruch. Junge Mütter sind zudem extrem empfänglich für solche Äußerungen, denn sie sind offen, weich und verletzlich. Dieser Zustand liefert die gute Voraussetzung, sich so innig auf dieses neu geborene kleine Menschlein in ihren Armen einzulassen.
Gleichzeitig macht es sie auch extrem verletzbar. Die „Sprüche der anderen“ lassen sich im Normalzustand ganz gut ertragen. Während der Schwangerschaft oder in den ersten Babywochen treffen einen unbedacht geäußerten Worte wie kleine, spitze Giftpfeile. Und die Botschaft, dass man nicht entspannt genug sei, trifft manchmal besonders hart. Denn vielleicht hatte man sich das in der Schwangerschaft anders ausgemalt. Dass man eine von den coolen, entspannten Müttern wird, die scheinbar alles mit links wuppen und auch noch richtig gut dabei aussehen. Leider gibt es die in der Realität aber meist nur in der Werbung oder höchstens mal phasenweise in echt. Das wird einem meist aber erst hinterher klar.
Daueralarmbereitschaft statt Entspannung
Ganz besonders arg trifft der „Entspann dich mal“-Tipp die Eltern eines Babys mit besonders hohen Bedürfnissen, auch „Schreibaby“ genannt. Dieser Begriff ist nicht besonders glücklich gewählt, weil er das Baby so sehr nur auf sein Schreiverhalten reduziert. Er hat sich aber umgangsprachlich etabliert. Aber ob nun „Schreikind“, „High Needs Baby“ oder „untröstlich weinendes Baby“ – es wird schnell klar, dass diese Kinder ihre Eltern besonders herausfordern. Doch auch wenn die Gesamtsituation sehr angespannt und anstrengend ist, gehören diese Eltern oft sogar eher zur entspannteren Sorte. Denn Kinder, die besonders viel brauchen, landen meist in den Armen von Eltern, die besonders viel geben und aushalten können. Es sind nicht selten sehr starke Eltern, auch wenn sich das phasenweise für sie selbst völlig anders anfühlt.
In den Momenten, in denen sie hilflos mit ihrem untröstlichen Baby im Arm dastehen, hilft es überhaupt nichts, ihnen auch noch zu sagen, dass sie einfach nur etwas unentspannt wären. Denn das Maß dieser Eltern ist in der Regel so übervoll, dass es gar nicht mehr gelingt, in einen Entspannungszustand zu kommen. Und ja, in der „Schreibabytherapie“ arbeiten Fachleute auch unter anderem mit Entspannungsanleitungen für die Eltern. Doch das nicht mit dem Hintergrund, weil die fehlende elterliche Lockerheit der Grund dafür wäre, dass ein Baby so häufig und untröstlich weint. Es ist mehr das Aufzeigen einer „Überlebensstrategie“, um weiter mit den hohen Anforderungen zurecht zu kommen. Denn manchmal findet sich trotz zahlreicher diagnostischer und therapeutischer Angebote für das Baby keine Behandlungsoption, die das Schreien in kurzer Zeit sehr deutlich verringert. Und jeder weitere Tag mit einem untröstlich weinenden Baby kostet die Eltern sehr viel Kraft.
Fast alle Eltern kennen Szenarien, in denen sich ihr Kind durch das bisher bewährte Beruhigungsprogramm wie Stillen, Tragen, Wiegen, Summen et cetera nicht so leicht beruhigt. Mal sind es die Zähne oder ein beginnender Infekt – oft auch keine richtig definierbare Ursache. Irgendwas zwischen Wachstumsschub und Gebärmutterheimweh reicht meist als Erklärung, um dieses Stressszenario ein Weilchen durchzuhalten. Wenn das Ganze aber über viele Tage, Wochen oder Monate geht, ist es Eltern irgendwann einfach nicht mehr möglich, zwischendurch zu entspannen. Der ganze Körper ist immer in Daueralarmbereitschaft.
Schreibabyeltern haben das Schreien oft noch im Ohr
Das Schreien des Kindes bewirkt in uns, dass wir schnellstmöglich reagieren, um es „abzustellen“, indem wir schauen, was das Baby braucht und es ihm geben. Es lässt Puls und Blutdruck ansteigen und eine Konzentration auf andere Dinge ist fast gar nicht möglich. Entspannt sich dann das Kind wieder, kommen auch Geist und Körper der Eltern wieder zur Ruhe. Ein Kind mit sehr hohen Bedürfnissen bringt seine Eltern permanent in diesen Stresszustand, dem sie sich eigentlich nur durch „Flucht“ entziehen können, wenn das Baby auf sämtliche Beruhigungsversuche nicht reagiert. Doch genau das macht erneut Stress, denn natürlich kann und möchte man sein Baby nicht allein lassen und eigentlich auch nicht den Partner, der vielleicht gerade mit dem weinenden Baby umherläuft.
Schreibabyeltern haben das Schreien oft noch im Ohr, wenn das Baby längst aufgehört hat. In diesem bewegenden Artikel schildert die Mutter eines Schreikindes, wie sie diese harte Zeit erlebt hat. Wer das liest, dem wird klar sein, wie unsinnig und verletzend es ist, solchen schwer belasteten Eltern zu sagen, dass sie sich „einfach nur mal entspannen“ sollen.
Der Entspannungstipp kommt natürlich in der Regel mit der guten Absicht, den Eltern helfen zu wollen. Er passt aber an dieser Stelle meist nicht. Was kann man also dann für belastete Eltern tun, wenn man nicht direkt damit helfen kann, die Begleitung des Babys akut zu übernehmen? Einfach zuhören und wertschätzen, was sie täglich leisten. Und nachfragen, was sie an konkreter Hilfe brauchen und möchten. Unterstützung im Haushalt oder bei der Betreuung von Geschwisterkindern, ein gekochtes Essen, ein etwas ablenkendes Gespräch oder eine Nackenmassage… die Eltern eines Schreibabys sind oft bescheiden, weil sie in dieser Zeit ihre eigenen Bedürfnisse ganz weit hinten anstellen.
Kleinigkeiten, die ein bisschen helfen
Es sind meist Kleinigkeiten, die ihnen ein bisschen helfen. Und Verständnis. Die Eltern eines Schreibabys sind oft auch einfach froh, wenn mal jemand da ist, der die häufig durch die belastete Situation entstandene Isolation durchbricht. Und der sich trotz aller momentanen Schwierigkeiten sich mit ihnen über das neue Menschlein freut. Vielleicht lässt sich so der Blick auf die kleinen Dinge lenken, die gerade trotzdem schön sind. Und wenn sie sich bisher noch nicht selbst um professionelle Hilfe gekümmert haben, sind sie sicher dankbar, wenn sie jemand dabei unterstützt.
Die Eltern eines „Schreibabys“ sind nicht einfach nur etwas unentspannt und haben deshalb ein so viel weinendes Kind. Ein Baby, was sich angemessen selbst regulieren kann, kommt auch gut mit einer ganz normalen anfänglichen Unsicherheit seiner Eltern zurecht. Außerdem gibt es einfach Babytage, an denen auch die entspanntesten Eltern nicht entspannt sein können. Und verständlicherweise wächst die Verunsicherung, wenn ich das Gefühl habe, meinem Kind nicht helfen zu können. Aber auch das hat nichts mit „fehlender Lockerheit“ zu tun. Denn wie eingangs gesagt, sind die Eltern eines Babys mit sehr hohen Bedürfnissen eigentlich die viel cooleren, entspannteren und tafferen Eltern, die so viel mehr schaffen und aushalten als die meisten von uns…
Hilfreiche Adressen:
Trostreich- interaktives Netzwerk Schreibabys | Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit
Dieser Artikel wurde aktualisiert im April 2021.
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