Ich laufe mehrmals wöchentlich im Park meine Runden. Wie so viele andere. Zum Beispiel der Typ, der drei mal so schnell wie ich läuft und dann noch hundert Liegestütze im Anschluss macht. Oder die recht kräftige Frau, die immer ihren Rucksack mit Wasser dabei hat. Der durchtrainierte Herr um die 65. Der junge Mann, der mit seiner noch erkennbaren Halbseitenlähmung wahrscheinlich ganz andere Laufziele hat, als derjenige, der jeden Tag ein anderes Marathonteilnehmer-Shirt trägt. Manche sind groß und schnell. Oder klein und langsam. Oder auch anders herum. Wir alle laufen im Park unsere Runden – und das wahrscheinlich gerne.
Und ich bin sehr froh, dass wir nicht einmal im Jahr zusammen an irgendeiner Startlinie stehen müssen. Um dann an diesem bestimmten Tag eine vordefinierte Strecke laufen zu müssen. Und im Anschluss ein Urkunde zu erhalten oder eben auch nicht. Es wäre sicherlich schon vorher klar, wer zu den „Siegern“ gehören wird. Wahrscheinlich könnten wir an der Ziellinie über die Absurdität dieses ungleichen Wettbewerbes lachen, denn wir sind erwachsen und würden diesen unfreiwilligen Wettbewerb kaum ernst nehmen. Vielleicht würde das Ganze aber doch den einen oder anderen demotivieren, wenn man sieht, dass man Jahr für Jahr niemals gewinnt.
Warum müssen sich also alle Schulkinder im Rahmen der Bundesjugendspiele einem Wettbewerb stellen, der für einige von ihnen schon vorher zum Scheitern verurteilt ist? Die Befürworter argumentieren damit, dass die Kinder heute sich ohnehin viel zu wenig bewegen. Nun, ob die „geplante Niederlage“ den Spaß an der Bewegung fördert? Ich glaube nicht. Jeder Personal-Coach stellt für seinen Kunden ein Sportprogramm zusammen, das auch Erfolgserlebnisse vorsieht. Das motiviert nämlich und hilft beim Dranbleiben.
Persönliches „Wurftrauma“ aus Bundesjugendspieltagen
Mein persönliches „Wurftrauma“ aus Bundesjugendspieltagen ist sicherlich nicht relevant, aber bis heute habe ich beim Ballwerfen auf dem Spielplatz das Gefühl, wirklich richtig dämlich dabei auszusehen. Und ich kenne viele ähnliche Geschichten von Erwachsenen, die alles andere als motiviert und sportbegeistert durch die Bundesjugendspiele waren. Ich war nicht gänzlich unsportlich zu Schulzeiten, aber dass mir Ballett einfach mehr lag als Springen und Werfen interessierte an dieser Stelle nicht. Und Ballett war nicht Teil des Bundesjugendspielprogramms. Ebenso wenig wie Skateboardfahren und Tennis, Christians Lieblingssportarten damals.
Und es interessiert auch heute immer noch nicht, in welchen Disziplinen sich Kinder wohl und sicher fühlen, um in einem Wettbewerb gegeneinander anzutreten. Die Teilnehmer der Olympischen Spiele treten ja auch nur in der Sportart an, in der sie talentiert und trainiert sind. Auch Lese- und Rechenwettbewerbe sind in der Regel freiwillig – und an dieser Stelle wird kein Kind vorgeführt, was sich mit dem Lesen oder Rechnen schwer tut. Wohl auch, weil es noch fatalere Folgen hätte, wenn ein Kind durch einen öffentlichen Vergleich beschämt werden würde. Ich glaube also nicht daran, dass die Bundesjugendspiele in bis dato unmotivierten Kindern die Lust an der Bewegung wecken. Und wenn wir mal ehrlich sind, ist der Bewegungsaspekt an diesem Tag doch eher gering bei einem kurzen Sprint sowie drei Sprüngen und Würfen.
Was ist also der Gewinn aus den Bundesjugendspielen für die Kinder, die eigentlich nicht daran teilnehmen möchten oder dies nur aus einem Wunsch nach Zugehörigkeit heraus tun? Ich glaube, es gibt keinen!
Künstliche Krisen erschaffen?
Die Befürworter sagen an dieser Stelle, dass Kinder ja schließlich lernen müssen, mit Niederlagen und auch dem Scheitern klarzukommen. Das tun sie auch. Immer wieder, weil es das Leben einfach mit sich bringt. Das Ganze muss aber nicht künstlich im Rahmen der Schulbildung forciert werden. Und an erster Stelle muss zudem stehen, Kindern ein gutes Selbstwertgefühl mit auf den Weg zu geben. Denn das ist das beste Rüstzeug, um später mit zwangsläufig stattfindenden Krisen konstruktiv umgehen zu können und nicht daran zu zerbrechen. Dazu gehört auch, seinen Körper als stark und gut funktionierend wahrzunehmen – ganz egal, wie schnell jemand damit laufen oder wie weit jemand einen Ball werfen kann.
Von mir aus muss niemand die Bundesjugendspiele zwingend abschaffen, da es auch genauso viele Kinder gibt, die Freude an solchen Wettbewerben haben. Das gilt für Lesewettbewerbe ebenso wie für Matheolympiaden. Die Basis jedoch sollte nicht der Zwang sein, der sich aus einer Teilnahmepflicht im Rahmen der Schulpflicht ergibt. Als freiwilliges Angebot wird es genau die Kinder erreichen, die auch wirklich Spaß daran haben. Und die anderen würden nicht mit Bauchschmerzen zur Schule gehen müssen oder sich deshalb gleich komplett von den Eltern „krank“ schreiben lassen. Und nein, es sind in meinen Augen keine „späteren Weicheier“, die sich so um die Teilnahme herum drücken. Sondern wahrscheinlich sogar Kinder, die sich gut einschätzen können und wissen, wo ihre Talente liegen. Und die später wunderbar auch ohne sprinten, springen und Kugelstoßen durchs Leben gehen. Vielleicht rudern sie, machen Yoga oder springen in 35.000 Metern aus einer Kapsel mit einem Fallschirm auf dem Rücken zurück zur Erde.
Über die Abschaffung der Bundesjugendspiele kann man also streiten, aber dass im Zuge dieser Diskussion immer wieder zu hören und zu lesen ist, dass Kinder, die sich diesem Wettbewerb nicht stellen, später „Weicheier“ werden und nicht wettbewerbstauglich sind, erschüttert mich schlicht. Warum müssen Kinder später unbedingt überhaupt wettbewerbsfähig sein und in Konkurrenz zu anderen stehen?
Mir ist schon klar, dass man in manchen Jobs mit so einer Einstellung wahrscheinlich weiter kommt als andere. Ob man glücklicher dabei wird, weiß ich nicht. In meiner Branche ist dieses Wettbewerbsverhalten eher kontraproduktiv. Die Arbeit im Kreißsaal funktioniert zum Bespiel am besten im Team und nicht dann, wenn jeder versucht, einen „Spitzenplatz“ mit seinem Tun zu belegen. Und ein bisschen „Weichei sein“ tut in Jobs mit sozialer Komponente auch ganz gut. Manche nennen das auch Empathie. Und darum glaube ich persönlich, dass auch jene Kinder, die Tränen wegen ihrer „Misserfolge“ bei den Bundesjugendspielen vergießen, ihren Weg gehen werden. Und ich wünsche Ihnen, dass sie später mal ganz unbelastet mit ihren Kindern Ball spielen können, weil ihnen kein Punktesystem als Kind vermittelt hat, dass sie einfach zu blöd dafür sind…
Diesen Text widme ich meiner Mutter, die mich bei Bedarf großzügig „krank“ geschrieben hat an dem Tag der Bundesjugendspiele. Danke, Mama!
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