Unser erstes Kind sollte eigentlich geplant außerklinisch zur Welt kommen. Trotzdem haben wir uns für den Fall der Fälle eine Klinik ausgesucht. Unsere damalige Berliner Wunschklinik wurde und wird damals wie heute von engagierten Kolleginnen im Belegsystem geleitet. Das heißt, dass die Hebammen alle freiberuflich arbeiten. Sie tun es in einem Schichtsystem, so dass der Kreißsaal rund um die Uhr besetzt ist. Als Schwangere bemerkt man deshalb gar keinen wirklichen Unterschied zu einem „normalen“ Kreißsaal, in dem vor allem angestellte Hebammen arbeiten.
Der Fall der Fälle trat dann übrigens auch ein. Unser Baby hatte sich wahrscheinlich kurz vor oder sogar unter der Geburt in Beckenendlage gedreht. Nachdem unsere Hebamme die für eine Hausgeburt nicht optimale Kindslage tastete, ging es nach einigen Wehenstunden in Richtung Klinik. Dort begleiteten mich die Kolleginnen wunderbar und selbstverständlich durch die dann noch recht lange dauernde Geburt.
Fünf Stunden nachdem ich unser Baby aus Beckenendlage geboren hatte, fuhren wir mit unserer Tochter im Arm wieder nach Hause. Bis heute bin ich so dankbar, dass wir in dieser besonderen Situation dort so gut aufgenommen und begleitet worden sind. Die Möglichkeiten, sein Baby auch mit dem Po voran ohne Kaiserschnitt zur Welt zu bringen, waren vor über zehn Jahren in Berlin doch noch wesentlich eingeschränkter.
Gute geburtshilfliche Versorgung geht den Bach runter
Was wäre also gewesen, wenn ich am Kreißsaal abgewiesen worden wäre? So wie es vielen Frauen heute widerfährt. Was wäre gewesen, wenn dieser Kreißsaal ganz geschlossen worden wäre? Ganz so, wie es in den letzten Jahren gerade in kleineren geburtshilflichen Kliniken häufig der Fall ist.
Ich kann und möchte diese Gedanken gar nicht zu Ende denken. Doch niemand kann mittlerweile mehr die Augen davor verschließen, wie die einstmals recht gute geburtshilfliche Versorgung hier den Bach runter geht. Auch der aktuelle Beschluss der Schiedsstelle, die zwischen den Hebammenvertreterinnen und den Gesetzlichen Krankenkassen vermitteln sollte, wird weitreichende Einschnitte in die Berufsausübung der Hebammen mit sich bringen.
Vor allem betroffen sind jene Beleghebammen, die wie eingangs beschrieben im Schichtsystem arbeiten. Annemarie Hölscher ist eine von ihnen. Sie hat uns im Gespräch erklärt, was die Konsequenzen des Schiedsstellenbeschlusses für die Beleghebammen sein werden, aber vor allem auch für die Schwangeren und Mütter.
Hebammen werden durch Schiedsspruch eingeschränkt
Annemarie, stell Dich doch bitte kurz vor und erzähle uns, wie Du als Hebamme arbeitest?
Ich bin 32 Jahre alt und arbeite seit 2011 als freiberufliche Hebamme im ländlichen Raum in Niedersachen. Ich bin Belegerin im Dienstsystem und biete aktuell auch die häusliche Wochenbettbetreuung an. Vor der Geburt meines Sohnes vor zwölf Monaten habe ich auch Vorbereitungskurse angeboten. Im Kreißsaal sind wir ein Team aus zwölf freiberuflichen Hebammen. Wir leisten zwölfstündige Anwesenheitsdienste und 24-stündige Rufdienste. Wir sind also maximal zu zweit im Dienst, um 1400 Entbindungen im Jahr zu betreuen. Nebenbei gilt es, eine große Anzahl an ambulanten Leistungen der Schwangerschaftsüberwachung zu erbringen.
An unsere Klinik ist ein Level-1-Zentrum angeschlossen. Es werden also alle Frühgeborenen unabhängig von der Schwangerschaftswoche betreut. Eine Schwangerschaft vor der 37. SSW endet nicht nach etlichen Stunden der Geburtsarbeit und ist wenig bis gar nicht planbar. Somit ist unsere Arbeit immer wieder mit ungeplanten „Zwischenfällen“ verbunden. Um ehrlich zu sein, macht mir genau das sehr viel Spaß. Nicht zu wissen, was hinter dem nächsten Telefonat steckt, es macht die sowieso aufregende Hebammenarbeit noch spannender.
Der Schiedstellenbeschluss vom 05.09.2017 hat für eure Arbeit weitreichende Folgen. Wie sehen die aus?
Wir Hebammen werden durch diesen Schiedsspruch in unseren Abrechnungsmöglichkeiten eingeschränkt. Jeder andere Freiberufler kann alle Leistungen, die er am Tag erbringt, auch per Gesetz in Rechnung stellen. Wenn ich ab dem 1. Januar 2018 mehr als zwei Frauen gleichzeitig betreue, kann meine dritte oder vierte Leistung niemandem mehr in Rechnung gestellt werden bzw. ist es mir verboten, diese in Rechnung zu stellen. Es ist laut Schiedsspruch nicht erlaubt, Krankenkassenleistungen mit jemand anderem als der Krankenkasse abzurechnen, also etwa dem Krankenhaus oder der Kassenpatientin persönlich.
Schwangerschaft ist wenig bis gar nicht planbar
Wenn ich also zwei Frauen betreue und uns ein Rettungswagen mit einer drohenden Frühgeburt angekündigt wird, kann ich entweder eine der beiden Frauen aus dem Kreißsaal entlassen oder davon ausgehen, die dritte Frau unentgeltlich betreuen zu müssen. Kein Handwerker würde sich auf so eine Regelung einlassen und seine Leistungen umsonst erbringen. Muss er auch nicht, denn ob die Küche heute oder morgen gestrichen wird, ist in den meisten Fällen egal. Bei einer Frühgeburt ist es nicht egal, ob ich jetzt Hilfe leiste oder erst in 90 Minuten, wenn ich wieder Abrechnunskapazitäten habe.
Eine Schwangerschaft vor der 37. SSW endet nicht nach etlichen Stunden der Geburtsarbeit. Sie ist wenig bis gar nicht planbar. Unser Klinikalltag bringt immer wieder Situationen hervor, in denen die Ärzte binnen von Minuten eine Sectioindikation ausrufen. Durch die Kinderklinik überwachen wir stationär viele Hochrisikoschwangerschaften, die jederzeit, Tag wie Nacht, zur Geburt kommen können. Und Rettungswagen stehen auch nicht schon morgens um Sieben im OP-Plan.
Diese Abläufe werden wir auch durch „Umstrukturierungen“, die vom GKV-SV gefordert werden, nicht planen können. Bin ich als freiberufliche Hebamme im Rufdienst und werde nicht in die Klinik gerufen, um Leistungen zu erbringen, habe ich am Abend folglich nicht gearbeitet. Ich kann also nichts abrechnen und habe keinen Cent verdient. Die Umstrukturierungen sollen nämlich so aussehen, dass „ausreichend“ Hebammen im Rufdienst sind, um bei Bedarf genug Kolleginnen hinzuziehen zu können.
Für uns Hebammen ein finanzielles Nullspiel
Das bedeutet für uns Hebammen aber ein finanzielles Nullspiel, da wir bei jedem Rufdienst, den wir zu Hause verbringen, „nicht arbeiten“, aber natürlich auch nicht frei haben. Jede von uns hat ein Privatleben. Neben meinen Anwesenheitsdiensten brauche ich, wie jeder Mensch, Erholungsphasen. Und zu denen gehört auch eine Nicht-Erreichbarkeit.
Das ist Selbstfürsorge, die jeder Mensch im helfenden Beruf beachten sollte. In der Selbstständigkeit sind wir alle selbst für uns verantwortlich. Es liegt an mir, meine Arbeitskraft bis zum Rentenalter zu erhalten. Eine Kur oder eine lange Ausfallzeit wegen Überlastung kann sich in der Selbstständigkeit niemand leisten. Daher fallen wochenlange Rufbereitschaften aus. Wenn ich im Rufdienst bin, kann ich nicht mal mit meinem Kind alleine zu Hause sein. Ich brauche für jede Stunde Rufdienst einen Babysitter für den Fall, dass ich aus dem Haus muss. Dieser will bezahlt werden, auch wenn ich zwölf Stunden neben ihm sitze.
Durch die Kinderklinik und Hochrisikoschwangerschaften leisten wir viele Überwachungsarbeiten. Diese sind in den meisten Fällen nicht geburtsrelevant. Es erschließt sich mir einfach nicht, warum ich nur zwei dieser Frauen, die oft täglich bei uns im Kreißsaal sind, betreuen darf. Ebenso ist unklar, warum nebenbei nur eine weitere Frau betreut werden darf, wenn ich eine Frau zur Entbindung habe. Jeder von uns ist klar, dass wir nicht zeitgleich mehr als zwei Geburten leiten können. Aber meine stationäre Hebammenarbeit umfasst so viel mehr als nur direkte Geburtsbegleitungen. Aber der Schiedsspruch umfasst ALLE geleisteten Arbeiten.
Hebammen tragen alle Konsequenzen
Welche Folgen wird der Beschluss der Schiedsstelle konkret für die Frauen haben, die zur Geburt zu euch kommen möchten? Wie werden sich die neuen Regelungen auf die ohnehin schon schwierige Lage der Geburtskliniken und somit auf die Versorgung der Versicherten auswirken?
Im Moment wird sich, Gott sei Dank, für die Frauen kurzfristig nichts ändern. Die Hebammen tragen alle Konsequenzen. Wir stehen in direktem Kontakt zur Geschäftsführung des Krankenhauses. Wir wollen arbeiten, wollen alle Frauen betreuen und dem Krankenhaus liegt auch einiges daran, eine umfassende medizinische Versorgung anzubieten bzw. zu erhalten.
Gemeinsam wird nach Lösungen gesucht. Was bei den engen Finanzmitteln der Krankenhäuser natürlich schwierig wird. Diese wollen und können uns unseren Verdienstausfall gar nicht erstatten. Das heißt aber auch, dass der GKV mit seinen Streichungen und Kürzungen genau das bekommt, was er will: Er muss weniger zahlen, die Patienten bekommen aber (erstmal) dieselben Leistungen. Allerdings auf Kosten der Hebammen und Krankenhäuser. Viele Häuser haben überhaupt noch Entbindunsstationen eben weil es das Belegsystem gibt. Eine Anstellung von einer Vielzahl an Hebammen können sich viele Häuser nicht leisten.
Wir sind nicht zufällig in einem helfenden Beruf gelandet. Mit vielen anderen Berufsverbänden etwa im wirtschaftlichen Bereich würde es nicht zu so einem Schiedsspruch kommen. Es werden Gehaltserhöhungen erkämpft. Wenn es schlecht läuft, gibt es keine. Uns wurden Kürzungen beschert. Jeder Werksangestellter hätte in dem Fall seine Arbeit niedergelegt. Baut eben jemand anderes zu einem anderen Zeitpunkt das Produkt X fertig. Wir Hebammen helfen, sehen die Not der Frauen unmittelbar vor uns uns, wenden uns zum Glück nicht ab und gehen nach Hause. Wir bleiben vor Ort und leisten Dienste, notfalls auch unentgeltlich. Bis es eben nicht mehr geht. Irgendwann ist der Druck zu hoch.
Das große Schließen der Entbindungskliniken
Dann wird das große Schließen der Entbindungskliniken losgehen. Aktuell machen ohnehin schon immer mehr kleine Abteilungen zu. 2018 werden viele weitere folgen. Ich selber kann diese Bewegung im Moment nicht überblicken. Keine von uns weiß genau, wie es im kommenden Jahr finanziell aussehen wird. Direkt zum 1. Januar werden wahrscheinlich alle versuchen, den Kopf über Wasser zu halten und nach und nach feststellen, dass es nicht geht. Kann die selbstständige Hebamme sich nicht selbst versorgen und das Haus sich keine Anstellung leisten, wird der Kreißsaal geschlossen. Dann werden die Schwangeren und Mütter Probleme bekommen. Von einer wohnortnahen Entbindungsmöglichkeit wird dann nur noch in der Vergangenheitsform berichtet werden können. Dann gibt es nur noch große Versorgungszentren.
Der GKV „verkauft“ die neuen Regelungen als Verbesserung der geburtshilflichen Versorgung der Frauen. Warum entspricht das aus deiner Sicht nicht der Realität?
Tatsächlich ist eine 1:2-Betreuung total wünschenswert. Neben einer adäquaten Entlohnung würde so eine Arbeit vielleicht auch wieder das Interesse junger Menschen am Beruf wecken. Dann wären auch wieder alle Plätze in den Hebammenschulen besetzt und auf lange Sicht hätten wir mehr aktive Hebammen auf dem Arbeitsmarkt. Wenn wir alle Schwangeren in Deutschland zusammenrechnen und alle in der Geburtshilfe tätigen Hebammen gegenüberstellen, ist aber schon ganz klar, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Da würden mehr als die Hälfte der Geburten ganz ohne Hebammenbetreuung stattfinden.
Und warum gelten die neuen Regelungen bezüglich der wirklich wünschenswerten 1:2-Betreuung im Kreißsaal nicht auch für die Geburtsbegleitung im Angestellten-System?
Im Angestellten-System ist auch eine 1:2-Betreuung von den Personalstrukturen anzustreben. Kein Krankenhaus hat aber wirkliches Interesse, dies umzusetzen. Es gibt gesetzliche Schlupflöcher, dauerhaft ausgesessene Notfallstrukturen (auf Kosten der angestellten Hebammen). Diese Systeme kennen wir auch aus anderen helfenden Bereichen. Keine Station hat ausreichend Schwestern im Dienst. Keine Pflegerin im Altenpflegeheim hat genug Zeit für die einzelnen Patienten. So ist das deutsche System, es ist zu 100 Prozent privatisiert. Die Geschäftsführung ist an möglichst hohen schwarzen Zahlen interessiert, nicht am Verlauf des einzelnen Individuums. Eine grundlegende Politisierung dieses „Geschäfts“ wäre vielleicht eine Lösung. Das wird nicht geschehen, egal welche Partei wir am 24. September gewählt haben.
Gleiches Recht für alle
Was würdest du dir an wirklichen Verbesserungen wünschen?
Eine bessere Entlohnung, oder jedenfalls mehr Flexibilität in der Hebammenarbeit. Der Beruf muss attraktiver werden und alle Leistungen deutschlandweit so verteilt werden, dass alle Frauen adäquat betreut werden. Auch im Angestellten-System. 20 bis 25 Prozent der Geburten werden von Belegerinnen betreut. Diese bekommen jetzt eine „scheinbar“ bessere Betreuung. Würde der GKV wirklich eine flächendeckende Verbesserung im Blick haben, hätte er sich um die übrigen 70 bis 75 Prozent der Frauen und Kinder gekümmert. Gleiches Recht für alle.
Gibt es bereits Ideen, wie euer Team mit der Situation umgehen wird?
Bisher keine, mit der alle zufrieden oder einverstanden sind. Wir haben schlussendlich doch noch eine Antwort von Herrn Hirschmüller bekommen. Er vertritt uns in allen Angelegenheiten und Verhandlungen mit dem Krankenhaus. Das ist schon mal beruhigend. Das Krankenhaus ist in diesem Fall aber nicht der große „Endgegner“. Die Geschäftsführung ist auch an einer Lösung interessiert. Es wird wohl oder übel auf mehr „unbezahlte“ Rufdienste hinauslaufen. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Vielleicht zaubert Herr Hirschmüller eine aus dem Hut.
In den vergangenen Jahren haben immer mehr Hebammen die Geburtshilfe ganz aufgegeben. Sind bei dir oder deinen Kolleginnen auch Überlegungen diesbezüglich da?
Auf jeden Fall! Jede von uns hat einen geburtshilfefreien Plan B in der Tasche. Ich mag die Geburtshilfe wirklich sehr. Aber es bleibt mein Beruf, mit dem ich meinen Lebensunterhalt verdienen muss. Gelingt mir das nicht in einem ausreichenden Maß, werde ich mir andere Arbeitsstrukturen suchen. Auch kurzfristig.
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