Meine Kollegin Isabel ist Mutter von vier Kindern und hat in der Reihe „Wenn Hebammen Kinder kriegen“ die bewegende Geburtsgeschichte ihrer Zwillinge Jonathan und David erzählt, die über 14 Wochen zu früh geboren worden sind. Den erstgeborenen Zwilling Jonathan musste sie nach wenigen Tagen wieder gehen lassen. Sein Bruder David musste nach der Geburt noch lange Zeit in der Kinderklinik bleiben. Auch heute noch bringt seine Frühgeburtlichkeit so manche besondere Herausforderungen für ihn und seine Eltern mit sich. Diesen Brief mit ihren Gedanken hat Isabel nach einer Begegnung auf dem Spielplatz am letzten Wochenende geschrieben. Sie würde sich freuen, wenn ihre wichtige Botschaft geteilt wird und auch andere Eltern von ihren Erfahrungen berichten, damit Inklusion nicht nur ein großer Begriff sondern einfach gelebter Alltag ist.
Wir haben am Wochenende auf einem unserer liebsten Spielplätze die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres genossen. Meine beiden Jungs haben dort vier Mädchen getroffen, die sie bisher nicht kannten. Eine hieß Hannah, sieben Jahre alt. Und sie hat mir diese eine Frage gestellt, die ich zum allerersten Mal beantworten sollte. Weil mir das in diesem Moment nicht richtig gelungen ist, habe ich hier einen offenen Brief an sie verfasst. In der Hoffnung, dass auch andere Eltern das Thema mit ihren Kindern besprechen.
Und dann vielleicht in meinem Brief die richtigen Worte finden. Und in der Vision, dass unsere Gesellschaft endlich den Schrecken vor dem Wort „behindert“ verliert. Denn im Grunde ist es etwas, das unsere Gesellschaft dazu gemacht hat, nicht etwas, das schlimm ist. Wenn wir „behindert“ im gleichen Atemzug mit dem Gedanken „wie kann ICH ihm/ihr helfen?“ sehen, dann verliert das Wort seinen Schrecken. Für Eltern, für Betroffene, für alle. Und dann werden wir ganz von selbst Inklusion leben, ohne groß etwas dafür zu tun.
Liebe Hannah,
Ist der behindert? – hast du gefragt.
Und obwohl ich wusste, dass dieser Moment, diese Frage, vermutlich irgendwann kommen würde, war ich nicht darauf vorbereitet. Vielleicht auch weil ich gehofft hatte, dass er nicht kommt. Ich habe dann etwas rumgestottert: „Hmm, David ist zu früh geboren und deswegen ist er kleiner und leichter als andere Kinder…“, lautete mein erbärmlicher Erklärungsversuch. Deine Mama hielt noch mit einem „Es ist alles normal!“ entgegen.
Auf dem Nachhauseweg habe ich darüber nachgedacht. Nein, genau genommen ist überhaupt nichts normal. Die Frühgeburt macht vieles anders, bis heute. Ja, in gewisser Weise behindert sie uns und ihn, da hast du Recht. Und normal ist ganz sicher das wenigste. Ich glaube auch, dass deine Mama es nicht böse gemeint hat. Denn was sie eigentlich sagen wollte – da bin ich mir ziemlich sicher: Spielt trotzdem mit ihm, grenzt ihn nicht aus.
Und da kann ich ihr nur zustimmen: Ich habe mich so gefreut, dass er mit euch und ihr mit ihm gespielt habt. David fällt es manchmal sehr schwer, andere Kinder anzusprechen, mit ihnen zu spielen, sich einzubringen. Er spürt sicherlich, dass ihm vieles mehr Mühe bereitet als anderen Kindern. Er merkt, dass er anders ist – und wäre doch so gerne wie ihr. Das Gefühl kennst du sicherlich auch: Wenn in der Schule die Kinder zusammen stehen, sich die Klasse trifft, dann willst du ja auch dazu gehören. Dabei sein. Und nicht nur von außen zusehen, mit dem Gefühl, dass das nichts mit dir zu tun hat.
Es ist dieses Wort „behindert“
Ich bin dann nach Hause gefahren mit meinen Jungs und ich habe noch lange darüber nachgedacht. Was ich anderes hätte antworten können. Besser, so dass du mich verstehst. Ich denke, dass nächste Mal bin ich auf diesen Moment besser vorbereitet: Ja, für David ist vieles anstrengender als für dich und ja, ein bisschen behindert ihn das.
Ich glaube, es ist dieses Wort „behindert“, was uns alle zusammenzucken lässt. Weißt du Hannah, es ist in unserem Sprachgebrauch sehr negativ behaftet. Obwohl es ja eigentlich nur aussagt, dass da etwas ist, was den Menschen in seinem Tun behindert. Nicht der Mensch selbst als Mensch ist behindert. David ist genau so ein Kind wie ihr auch. Aber durch die frühe Geburt fällt ihm vieles schwerer. Es behindert ihn bis heute. Und das wird vermutlich auch sein Leben lang so bleiben. Die Frühgeburt ist etwas, was ihm passiert ist und nicht etwas, das ihn ausmacht.
Aber weißt du was den Unterschied macht?
Kinder, wie du! Die mit ihm spielen, mit ihm toben. Ihn mittendrin sein lassen, statt nur dabei. Und dann ist es plötzlich gar nicht mehr so wichtig, ob da etwas ist, was ihn behindert. Weil es Kinder wie dich und deine Schwester und die Zwillinge gibt, die ihm helfen, wenn er nicht mehr weiter weiß. So wie du Hilfe bekommst, wenn du nicht weiter weißt. Wie alle Kinder Hilfe bekommen, wenn sie nicht weiter wissen. Es war sehr schön euch gestern alle zusammen zu sehen. Danke, für deine Frage.
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