Die Hebamme Antonia ist Mutter von vier Kindern. Als ihr vierjähriger Sohn Christoph vor einigen Monaten sagte: „Mami, ich bin nicht mehr der Christoph. Ich bin ein Mädchen und ich heiße Belli!“, da veränderte sich vieles in ihrem Familienleben. Antonia schreibt bei uns als Gastautorin über die Herausforderungen der Transidentität und über das Loslassen von Bildern vom eigenen Kind. Und über das Lieben und Annehmen von Kindern, so wie sie sind.
Mehr Hintergrundinformatioen zum Thema gibt es in diesem Interview mit Dr. Erik Schneider. Der Psychiater und Psychotherapeut berät, referiert und schreibt zum Thema und ist in der Schulberatung von Trans-Kinder-Netz e.V (Trakine) tätig.
Es ist jetzt dreieinhalb Monate her, dass Belli zu uns gekommen ist. Das kam so.
Wir haben abends Gäste erwartet, also habe ich die beiden großen Mädels gebeten, sich ihre Dirndl anzuziehen und den beiden kleinen Buben ihre Lederhosen rausgelegt. Da hat sich Christoph, zu dem Zeitpunkt vier Jahre und drei Monate alt, bitterlich, herzzerreißend weinend auf den Boden gelegt und gewimmert: „Ich zieh die Lederhose nicht an, ich zieh die nie wieder an! Ich will auch ein Dirndl anziehen!“
Ich hab‘ kurz probiert, ihn dazu zu überreden, dann einfach in Jeans zu gehen. Aber es war gleich klar, dass das auch keine Lösung wird. Also bin ich in unser Kammerl gegangen und hab‘ ein altes Dirndl der großen Schwester rausgezogen. Christoph hat es angezogen und war sofort völlig verändert.
„Mami, ich bin nicht mehr der Christoph. Ich bin ein Mädchen und ich heiße Belli!“
Wäre die ganze Geschichte ein Film, so hätte man in diesem Moment kitschige Geigenmusik gehört und es hätte pinken Glitzer geregnet. Christoph ist dann auch den ganzen Abend total selig gewesen, im Dirndl durch den Raum geschwebt und später direkt damit ins Bett gegangen.
In der nächsten Früh saß ich auf der Fensterbank in der Küche und habe, noch recht verschlafen, meinen ersten Kaffee getrunken. Da kam Christoph zu mir, hat sich neben mich gesetzt und gesagt: „Mami, ich bin nicht mehr der Christoph. Ich bin ein Mädchen und ich heiße Belli!“ Wumms. Mir war in der ersten Sekunde sofort klar, dass das kein Spiel ist, sondern ganz tief aus dem Inneren kommt und völlig ernst gemeint ist. Ich habe irgendwie sowas gesagt, wie: „Schön, dass du da bist Belli.“ Alles klar, sie ist abgedampft und ich habe staunend meinen Kaffee fertig getrunken.
Das war an einem Samstag im Februar. Am Sonntagabend war Belli immer noch „da“, von Christoph keine Spur. Wir alle, also die Eltern und die drei Geschwister haben uns das ganze Wochenende Mühe gegeben, Belli statt Christoph zu sagen und wurden auch konsequent verbessert. An diesen Sonntagabend saß ich mit meinem Mann zusammen und wir haben uns angeschaut und waren uns einig: Wir nehmen und lieben unser Kind, so wie es ist. Wenn es eine Phase ist, geht es von allein vorbei. Wenn es keine Phase sein sollte, ist es umso wichtiger, dass wir von Anfang an voll und ganz hinter unserem Kind stehen und den Weg mit ihm gehen.
Jetzt sehe ich das etwas anders
Ich hatte gerade ein paar Wochen zuvor einen Artikel in der Zeitschrift „Chrismon“ gelesen über James, einen Transjungen mit Pfarrerseltern – und war deswegen zufällig sensibilisiert. Es hat mir sehr geholfen, zu wissen, dass Transidentität nichts ist, was es nur bei Erwachsenen gibt. Ich hatte mich ehrlich gesagt vorher noch nie näher mit dem Thema beschäftigt. Im Nachhinein erscheint es mir nicht als Zufall, dass dieser berührende Artikel so kurz vorher erschienen und mich tief ergriffen hat. Rückblickend fallen mir viele kleine Details auf, dass Belli schon eine ganz Zeit lang da war, bevor sie so richtig sichtbar wurde. Obwohl ich Christoph immer als typisch bubenhaft wahrgenommen habe – oder vielleicht wahrnehmen wollte?!
Immer schon wurden Kleider der großen Schwestern ausgeliehen oder mit ihnen gemeinsam als Ferienspaß die Nägel lackiert. Lila war lange die Lieblingsfarbe, der Penis wurde vorm Spiegel versteckt, um zu spielen, dass dort stattdessen eine Scheide wäre. Ich habe es immer darauf geschoben, dass Belli zwei ältere Schwestern hat. Es war mir total einleuchtend, dass diese nachgeahmt werden. Jetzt sehe ich das etwas anders, bemerke aber auch, wie viel elterliche Interpretation ist. Mir fällt auf, dass ich es besonders bubenhaft fand, wenn Christoph mit meinem Mann aufs Feld fahren wollte oder ewig an Baustellen geguckt hat. Dabei machen das die beiden großen Schwestern genauso gerne…
Leicht wird der Trans-Weg eher nicht
So begann Mitte Februar unser Weg als Familie mit einem Trans*Kind. Auch wenn wir – ganz ehrlich – immer noch ein bisschen hoffen, dass es doch nur eine Phase ist und Christoph irgendwann zurück kommt. Nicht, weil wir unser Kind nicht annehmen können oder wollen. Sondern weil wir unseren Kindern einen Lebensweg voller Leichtigkeit wünschen. Und leicht wird der Trans-Weg eher nicht. Aber da wir im Hier und Jetzt leben und nicht in der Zukunft, sind wir also aufgebrochen, um eine neue Welt kennenzulernen, die uns bis dahin nicht gerade geläufig war.
Für uns Eltern war es zunächst durchaus schwierig, uns von Christoph zu verabschieden. Oder besser gesagt, unser Bild von ihm loszulassen und gegen Belli einzutauschen. Denn das Kind ist ja noch genau das gleiche. Wir sind ziemlich schnell auf Trakine gestoßen und haben dort viel Hilfe und Unterstützung bekommen. Vor allem aber die Gewissheit: Wir sind nicht allein! Unser Kind ist auch nicht unnormal, wenn überhaupt, dann nur außergewöhnlich und besonders! Besonders mutig und stark nämlich 😊
Die älteste Schwester (8) hat einen Transjungen in der Klasse. Sie war daher mit dem Thema schon ein bisschen vertraut und hat Belli sehr schnell annehmen können. Trotzdem hat sie ein paar Mal abends geweint und mir gesagt, wie sehr sie Christoph vermisst, obwohl sie Belli genauso lieb hat. Die zweitälteste Schwester (6) hat sich da deutlich schwerer getan. Sie hat zwar sofort ihren Kleiderschrank durchsucht, um Kleidung für Belli bereit zu legen. Aber sie hat lange gebraucht, um sich an den neuen Namen zu gewöhnen. Und noch länger, um „sie“ statt „er“ zu sagen. Manchmal schreit sie im Streit noch „Du wirst nie ein echtes Mädchen sein“… Unser jüngster Sohn (2,5) hat vom ersten Tag an Belli gesagt, als wäre es das Normalste der Welt.
Viel Offenheit und Unterstützung erfahren
Im Familien- und Freundeskreis wurde Belli zum Glück von (fast) allen ziemlich schnell akzeptiert und wir werden toll unterstützt. Etwas anders war es im Kindergarten. Die Erzieherinnen haben sich sofort bereit erklärt, sich mit dem Thema zu befassen und sich professionelle Hilfe zu holen. Aber sie haben es abgelehnt, den Namen Belli zu übernehmen. Sie hatten dazu Ratschläge von verschiedenen Institutionen eingeholt, die klar sagten, auf keinen Fall den neuen Namen verwenden, sonst habe ja Christoph gar keine Chance, wiederzukommen.
Für Belli war das extrem schwierig. Sie sagte Dinge wie: „Wenn die weiter Christoph zu mir sagen, verstehen die doch NIE, dass ich ein Mädchen bin.“ Sie fragte mich oft, warum die Erzieherinnen nicht einfach Belli sagen können. Es war schwierig, darauf eine Antwort zu finden, die mein Kind nicht noch mehr verunsichert hätte. Inzwischen, drei Monate und viele Gespräche und Tränen später, haben sie sich bereit erklärt, Belli auch so zu nennen.
Wir haben viel Offenheit und Unterstützung und Interesse an unserem Kind erfahren in den letzten Monaten. Unterstützung auch von Menschen, von denen wir es nicht unbedingt erwartet hätten. Zum Beispiel hat eine Mutter aus einer anderen Kindergarten Gruppe Belli einen tollen Anstecker mit ihrem neuen Namen drauf geschenkt. Der prangt jetzt deutlich sichtbar auf ihrem Rucksack. Oder ein Bekannter, der bei einem Markt in unserem Dorf in voller Lautstärke nach Belli gerufen hat.
Ablehnung, Angst, Vorwürfe und Unsicherheiten aushalten
Aber wir haben auch viel Ablehnung, Angst, Vorwürfe und Unsicherheiten aushalten müssen. Meine beste Freundin, die uns nicht besuchen wollte, weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder mit „diesem Thema“ in Berührung kommen, sondern weiter ihre behütete Kindheit leben sollen. Die Cousine, die Belli als Blumenkind wieder ausgeladen hat. Die vielen Menschen, die über Belli und uns lächeln und uns nicht ernst nehmen. Leute, die uns vorwerfen, Belli in die Trans-Rolle zu drängen. Die vielen, gut gemeinten aber extrem nervigen, Vorschläge, wie wir Belli das Bub-Sein wieder schmackhaft machen sollen.
Da ist noch viel zu tun und mit der Veröffentlichung dieses Artikels möchte ich einen kleinen Beitrag leisten, dass das Wissen um die Thematik Transidentität wachsen kann. Die Angst im Umgang damit schwinden soll schwinden. Es hilft hoffentlich dabei, dass langsam aber sicher Transidentität – bei Erwachsenen und Kindern – als das wahrgenommen wird, was es ist: eine Besonderheit, eine Abweichung von der Norm. Aber definitiv nix Unnormales oder Krankhaftes! Es gab Transidentität immer schon und in allen Kulturen. Die Zahl steigt auch nicht, sondern es wird nur sichtbarer. Und das ist gut so!
Mehr Links zum Thema:
Hintergrund: www.divers.land | Hintergrund: www.novitas-bkk.de/kinderseeleinnot/transidentitaet | Film: „Ich bin Sophia“ | Film: „Mädchenseele“
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