Mit zwölf Monaten hätte der Babysohn eigentlich ungefähr 12.900 Gramm wiegen müssen. Denn circa zu dem Zeitpunkt (mit zehn bis 16 Monaten) sollte ein Säugling sein Geburtsgewicht verdreifacht haben. Aber auch ein halbes Jahr nach seinem ersten Geburtstag ist er noch gute zwei Kilogramm von diesem Wert entfernt. Stattdessen rennt ein langer, eher zarter, gesunder und lustiger kleiner Junge durch die Gegend.
Denn wie so oft sind jene Werte und Maße, die Kurven und Wachstumstabellen vorgeben, nicht das, was der Entwicklungsplan eines jeden einzelnen Kindes vorsieht. Da gibt es die Ausschläge nach oben und nach unten. Und das beginnt schon in der Schwangerschaft. Gerade in den letzten Wochen sind zahlreiche Mütter verunsichert, weil der Ultraschall ein zu „hohes“ oder zu „niedriges“ Gewicht berechnet hat.
Natürlich kann niemand die Kinder intrauterin wiegen. Vielmehr berechnet ein Computerprogramm aus verschiedenen Maßen wie Beinlänge sowie Kopf- und Bauchumfang des Kindes ein Schätzgewicht. Alle Geburtshelfer wissen, wie beachtlich die Abweichungen zwischen Schätzgewicht und realem Geburtsgewicht sein können. Laut Ultraschall war unser drittes Baby etwa 500 Gramm leichter. Diese und auch noch viel größere Abweichungen gibt es – nach oben wie nach unten.
Die Verunsicherung der Schwangeren ist aber in beiden Fällen gleich hoch, wenn das Kind aus der Normkurve fällt. Und nicht selten folgen auch entsprechende Konsequenzen wie ein geplanter Kaiserschnitt wegen eines möglichen Missverhältnisses von Kind und Becken. Gar nicht so selten wird dann aber nicht das Vier-Kilo-Kind per Sectio geboren. Sondern ein 3200 Gramm leichtes, eher zartes Kind, das vielleicht einen etwas größeren Kopfumfang aufweist. Deshalb sollte neben der ganzen Schallerei auch noch mal eine Gewichtseinschätzung durch die Leopold-Handgriffe erfolgen. Dabei wird das Kind von außen ertastet. Es ist auch sinnvoll, mal einen Blick auf die Körpergröße der Mutter zu werfen, statt voreilige Entscheidungen zu treffen.
Laut Normwerten alles „ein bisschen zu schmal“
Wenn ich da an meine in der Hebammenausbildung mit dem Beckenzirkel ermittelten eigenen Beckenmaße denke… laut Normwerten wäre das auch alles „ein bisschen zu schmal“ gewesen. Die unkomplizierten Geburten meiner doch eher großen bzw. schweren Kinder bestätigen aber, dass Geburten nun mal kein statisches Geschehen sind. Kind und das Becken der Frau können sich in den meisten Fällen sehr gut anpassen. Es gilt also immer, noch einen Blick mehr auf die Gesamtsituation zu werfen, bevor ein einzelner ermittelter Wert zu weitreichenden Interventionen führt.
Genauso ist es auch nach der Geburt. Natürlich können wir da die Babys genauer wiegen und messen. Aber auch das ist immer nur ein Parameter im Gesamtgeschehen. Und nein, ich halte das regelmäßige Wiegen von Neugeborenen nicht für überflüssig. Es zeigt mir gerade in den ersten Tagen, ob alles entsprechend gut läuft.
Und ja, es ist auch gut, konkrete Anhaltswerte, also Kurven und Tabellen, zu haben, an denen man sich orientieren kann. Allerdings gilt es bei Abweichungen immer ein bisschen genauer hinzuschauen. Denn auch der Allgemeinzustand und das Verhalten des Kindes sowie die Ausscheidungen sagen viel über das Gedeihen aus. So können auch Kinder, die ein bisschen außerhalb der Kurven liegen, trotzdem gut gedeihen.
Kinder entwickeln sich nicht linear
Und tatsächlich war es in den Zeiten, in denen Eltern noch nicht jedes Maß und jeder Wert ergoogelten, für Hebammen und Ärzte etwas einfacher. Denn wenn sonst alles in Ordnung war, konnte man die Eltern beruhigen, auch wenn das Wochenziel der Gewichtszunahme nicht ganz erreicht war. Heute kennen die meisten Schwangeren mehr Messwerte der einzelnen Schwangerschaftswochen auswendig als jeder Geburtshelfer. Und auch anschließend studieren sie Tabellen, die vorgeben, wann das Kind wie groß und schwer sein muss und welchen Entwicklungsschritt es vollzogen haben muss. Kinder entwickeln sich aber nicht linear. Schon in der Bauchzeit wachsen sie eher in Schüben. Und so ist das auch hinterher. Natürlich ist es wichtig, bei Abweichungen zu klären, ob andere Probleme vorliegen.
Und nichts ist besser für Eltern, wenn sie dann entspanntes, aber kompetentes Fachpersonal begleitet. Entspannt, weil diese Fachpersonen den Eltern nachvollziehbar versichern können, dass alles in Ordnung ist mit ihrem Kind, auch wenn es sich nicht an „DIN-Norm-Kurven“ hält. Kompetent, weil sie handeln, wenn Handlungsbedarf besteht. Ich gebe zu, dass das als Hebamme und sicher auch als Arzt manchmal ein kleiner Balanceakt ist. Aber sofortiges Intervenieren aufgrund einer einzelnen Standardabweichung kreiert meist mehr Schaden als Nutzen.
Also liebe Eltern, hört auf, zu viele Tabellen und Kurven zu lesen. Sucht euch lieber gute Begleiter, die durch ihr Wissen dabei helfen, eure Kompetenzen zu stärken. Die zu erkennen helfen, dass es eurem Kind gut geht, auch wenn mal ein Tabellenwert nicht ganz passt, aber ansonsten alles in Ordnung ist. Deshalb mal ein dickes Dankeschön an dieser Stelle an meine lieben, kompetenten Hebammenkolleginnen und unseren weisen, entspannten Kinderarzt, die auch die Hebammenmutter beruhigen, wenn das Kind mal aus der Kurve rutscht.
Schreibe einen Kommentar