In dem Tischspruch „Jeder isst so viel er kann, nur nicht seinen Nebenmann…“ steckt wohl mehr Wahrheit, als man beim ersten Hören denkt. Zumindest wenn wir davon ausgehen, dass damit die tatsächlich benötigte Nahrungsmenge beim Essen gemeint ist und nicht eine ungesunde Völlerei. Während wir Erwachsenen oft zu häufig über unsere eigentlichen Bedürfnisse hinaus essen, haben Kinder an sich noch ein gesundes und sehr gut funktionierendes Hunger- und Sättigungsgefühl. Zumindest dann, wenn man ihnen erlaubt, auch darauf zu hören.
Die meisten Eltern denken sich sicherlich, dass sie das auch tun und ja gar nicht die Nahrungsmenge fürs Kind vorgeben. Auf subtiler Ebene geschieht es aber trotzdem oft. Sei es, dass das Baby noch von den zwei letzten verbliebenen Löffelchen Brei im Schälchen überzeugt wird oder dem Kleinkind noch fünf weitere Nudeln schmackhaft gemacht werden.
Bei größeren Kindern wird gerne argumentiert, dass sie auch aufessen müssen, wenn sie sich den Teller nun mal so voll geladen haben. Dabei sind es sogar oft wir Eltern, die diesen entsprechend gefüllt haben. Das richtige Maß einzuschätzen, es ist ein Lernprozess, der selbst Erwachsenen allzu oft nicht gelingt. Wie oft esse ich meinen Teller nicht leer, weil ich meinen Appetit oder einfach die Sättigungswirkung einer Speise unterschätzt habe! Sehr deutlich wird das immer, wenn wir Pfannkuchen backen – manchmal komplett aus Vollkornmehl, manchmal gemischt mit viel Weißmehl. Der Sättigungseffekt ist ganz unterschiedlich, obwohl sich die Pfannkuchen optisch sehr ähneln.
Hunger und Sättigung beim Essen wahrnehmen
Dazu kommt ein nicht immer gleiches Hungergefühl. Manchmal ist es auch einfach Aufregung, die uns vom Essen abhält. Natürlich ist es durchaus sinnvoll, Kindern beizubringen, sich eher kleine Mengen auf den Teller zu laden und gegebenenfalls etwas nachzunehmen. Beim Baby bestimmen aber meist wir Eltern, wie viel auf dem Teller liegt. Aber weder Eltern noch Baby werden es komplett richtig einschätzen können, ob die Menge in diesem Moment passt.
Also wird vielleicht etwas übrig bleiben oder wir bereiten hektisch mehr Essen zu, weil wir den Appetit heute mal komplett unterschätzt haben. Leider lässt sich nicht mal von der Esserfahrung des einen Tages ableiten, wie viel das Baby morgen wohl essen möchte. Noch mehr? Oder gar nichts, weil vielleicht die Zähne schmerzhaft einschießen und sich Stillen oder Flaschennahrung gerade am besten für das Baby anfühlen? Wir wissen es nicht. Auch die vermeintlichen Experten, die oft gefragt werden, wie viel das Baby braucht, können es nicht genau benennen.
Vordefinierte Mengenangaben für gesunde und reifgeborene Babys funktionieren also nicht. Sie funktionieren weder beim Stillen oder bei der Flaschennahrung noch bei der Beikost. Auch Kleinkinder haben ihr ganz eigenes Hunger- und Sättigungsgefühl so wie eigentlich alle Menschen. Der Elternjob beim Essen ist also nicht, das Kind mit einer bestimmten Menge Nahrung zu speisen, sondern ihm zu helfen, sein Hunger- und Sättigungsgefühl wahrzunehmen und entsprechend zu handeln. Und natürlich das dazu passende gesunde Angebot zu machen.
Frühe Stillzeichen
Das bedeutet ganz am Anfang, dass ich die Hungerzeichen meines Neugeborenen kennenlerne. Viel zu oft hören junge Eltern noch ein „Wenn das Baby schreit, hat es halt Hunger!“ von Freunden oder Verwandten, aber auch von Fachpersonal. Ja, das hat es wahrscheinlich auch, aber gleichzeitig bereits Panik, dass es nichts bekommt. Denn dem Schreien sind in der Regel viele kleine feine Still- bzw. Hungerzeichen vorweg gegangen. Das kleine Baby wurde wach, ballte die Fäustchen, machte Suchbewegungen, schmatzende Geräusche und andere Bewegungen und Reflexe, die auf den Hunger hinweisen. Es ist also viel entscheidender, diese Zeichen zu kennen und frühzeitig zu handeln.
Statt ständiger Wiegerei ist es sinnvoll zu wissen, woran man noch ein gutes Gedeihen des Kindes erkennt. Gerade das noch immer empfohlene Wiegen vor und nach dem Stillen führt in der Regel zu keinerlei sinnvollen Erkenntnissen. Ganz im Gegenteil verursacht es für die Mutter entsprechend viel Stress. Jede Stillmahlzeit ist unterschiedlich- in der Dauer und auch in der Menge der aufgenommenen Muttermilch. Die Stillfrequenz selbst hat ebenso eine große Bandbreite. Mindestens acht Stillmahlzeiten in 24 Stunden sind in der ausschließlichen Stillzeit wünschenswert. Viele Kinder stillen aber deutlich häufiger. Denn Stillen bedeutet neben der Nahrungsaufnahme auch immer wieder Entspannung, Trost oder Hilfe beim Einschlafen. Es ist also auch völlig im normalen Rahmen, wenn ein Baby 20 mal in 24 Stunden an die Brust möchte – vorausgesetzt es gedeiht entsprechend gut.
Während man bei der Flaschenfütterung ja zumindest die getrunkene Milchmenge ablesen kann, sind es beim Stillkind andere Parameter, die darauf hinweisen, dass das Baby genug Nahrung bekommt. Stillende Mütter sehen und hören ein regelmäßiges Saug- und Schluckmuster. Das Schlucken hört sich wie der gehauchte Laut „K“ an. Ein sattes und zufriedenes Baby ist entspannt, hat entspannte Händchen und wird gerade in der ersten Zeit oft beim Stillen einschlafen. Nahrungsaufnahme ist Schwerstarbeit für Neugeborene.
Anzeichen für gutes Gedeihen
Circa fünf schwere Wegwerfwindeln oder sechs bis acht nasse Stoffwindeln sind ebenso wie regelmäßiger Stuhlgang ein Anzeichen für gutes Gedeihen. Regelmäßig bedeutet in den ersten vier Wochen drei mal oder häufiger Stuhlgang am Tag. Danach sind beim Stillkind auch Stuhlpausen von bis zu 14 Tagen oder sogar noch länger normal. Ein mit Pre-Nahrung gefüttertes Kind sollte mindestens einmal täglich Stuhl absetzen. Der Stillstuhl ist breiig bis flüssig und hat eine senfgelbe Farbe. Die Konsistenz kann an Hüttenkäse erinnern. Der Stuhl von nicht gestillten Kindern ist geformter und bräunlicher und hat einen aufdringlicheren Geruch. Mit der Beikosteinführung verändert sich der Stuhl generell entsprechend in der Konsistenz und im Geruch. Er wird fester und riecht unangenehmer.
Ein gut gedeihendes Kind nimmt altersentsprechend zu und entwickelt sich auch sonst altersgerecht. Doch auch Abweichungen von standardisierten Gewichts- und Entwicklungstabellen müssen immer individuell betrachtet werden, da es auch außerhalb dieser Normen Kinder gibt, die trotzdem gut gedeihen. Für kranke oder zu früh geborene Kinder gelten natürlich immer noch einmal andere Parameter, die es zu berücksichtigen gilt. Dafür sollen Eltern eine individuelle und einfühlsame Begleitung bekommen, damit auch hier Ernährung nicht zum großen Stressthema wird. Denn gerade bei viel zu früh in die Welt geborenen Kindern ist die Ernährung ein Thema, dass von Anfang an eine sehr große Rolle spielt und häufig mit einer hohen Belastung für die Kinder und die Eltern verbunden ist. Dass das Kind verhungern könnte, ist und bleibt eine elterliche Urangst.
Grundlagen für ein gesundes Essverhalten
Bei der Beikosteinführung geht es erst einmal nur primär ums Kennenlernen neuer Nahrung. Es wird also zunächst nichts ersetzt, sondern die Beikost ergänzt die bisherige Milchnahrung, die deshalb auch keinesfalls von Elternseite reduziert werden sollte. Das wird das Kind nach und nach selbst tun. Und ja, manchmal dauert das wesentlich länger, als es standardisierte Beikostpläne suggerieren.
In der Beikostphase ist es die Aufgabe der Eltern, den Kindern ein gesundes und kindgerechtes Nahrungsangebot zu machen. Das Baby wird entscheiden, was und wie viel es davon isst. Und wenn das Interesse nach drei Löffeln erst einmal weg oder das Bäuchlein voll ist, bevor Teller oder Gläschen leer sind, dann ist das einfach so. Eltern sollten die Kompetenz der Kinder, den Hunger und die Sättigung wahrzunehmen, viel mehr „feiern“ als den leer gegessenen Teller. Wir wissen doch alle längst, dass die Sonne nicht scheint, weil wir aufgegessen haben.
Hier ist Nahrungsmangel zum Glück meist keine grundsätzliche Sorge von Eltern. Doch auch ein Nahrungsüberangebot kann eine Herausforderung sein. Die Kinder müssen also fit gemacht werden, ihr Nahrungsbedürfnis realistisch einschätzen zu können und Essen nicht als Befriedigung für emotionale Bedürfnisse zu sehen. Dafür werden die Grundlagen bereits in der frühen Kindheit gelegt. Wird mit Gummibärchen statt mit langen Umarmungen getröstet, prägt sich diese Verknüpfung ein und wird auch noch viel später das Handeln bestimmen.
Passende Atmosphäre zum Essen schaffen
Das Stillen hat dabei eine Sonderrolle, denn natürlich findet ein Baby an der Brust auch Trost, wenn es sich zum Beispiel weh getan hat. Dann steht aber das nonnutritive Saugen im Vordergrund als „Nuckeln“, das nicht nur zur Nahrungsaufnahme dient. Es ist also ein Unterschied, ob bei einem Baby oder Kleinkind die Selbstregulation in Stresssituationen durch das Stillen unterstützt wird oder ob es „Gummibärchen“ zur Ablenkung von unangenehmen Emotionen bekommt.
Damit Babys und kleine Kinder ihren Appetit gut wahrnehmen können, ist es auch Elternaufgabe, eine passende Atmosphäre zu schaffen, die entspannt und ablenkungsfrei zum Essen einlädt. Hinzu kommt die Vorbildfunktion der Eltern, an der sich Kinder letztendlich nun einmal orientieren. Wenn ich selbst ausschließlich Apfelsaft zum Essen trinke, werde ich mein Kind sicher nicht von Wasser als geeignetem Getränk überzeugen können. Es ist schon eine ziemlich komplexe und verantwortungsvolle Aufgabe für Eltern, ihren Kindern ein gesundes Essverhalten nahezubringen. Zumal ja viele von uns selbst ganz andere Erfahrungen am Esstisch in der Kindheit gemacht haben.
Es wäre wahrscheinlich wirklich einfacher, wenn uns jemand sagen würde, dass wir alle vier Stunden 150 Milliliter Milch ins Baby geben und ihm mit sechs Monaten 190 Gramm Brei oder 6,5 Broccoliröschen und drei halbe Kartoffeln verabreichen. Den nicht selten aufkommenden Wunsch nach konkreten Gebrauchsanleitungen für Kinder kann ich gut nachvollziehen. Aber damit würden wir letztlich nicht weiter kommen, da es die Individualität der Kinder nicht berücksichtigt. Das Baby isst, wie eingangs gesagt, so viel es kann. An diesem Tag, in diesem Moment und in dieser Situation. Und wenn wir es dabei nicht stören, wird es seine Bedürfnisse wahrnehmen und uns zeigen, was es braucht. Und das lange bevor es sprechen oder selbst an den Kühlschrank gehen kann.
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