Gar nicht so selten fragen mich Eltern in den ersten Wochenbetttagen: „Meinst du, unser Kind kann noch ein Schreibaby werden?“. Einige wissen, dass ich noch eine Weiterbildung zur „Schreibabyberaterin“ (oder lang: körperpsychotherapeutische Krisenintervention in der Schwangerschaft, Baby- und Kleinkindzeit) absolviert habe. Vielleicht liegt da die Vermutung nahe, dass ich dem Kind oder der jeweiligen Situation ansehen könnte, wie schreiintensiv die folgende Babyzeit noch werden könnte. Natürlich kann ich das nicht. Ich bin ohnehin kein Freund von dem Wort „Schreibaby“, denn es stigmatisiert das Kind. Trotzdem sind natürlich vielen Eltern Begriffe wie die Schreibabyambulanz als helfende Instanz ein Begriff. Aber was ist überhaupt ein „Schreibaby“?
Die klassische Dreierregel, nach der das Schreibaby mindestens drei Stunden am Tag an drei Tagen in der Woche und das über drei Wochen lang schreit, hat zum Glück mehr oder weniger ausgedient. Denn sie wird den Eltern nicht gerecht, deren Kind „nur“ zwei Stunden und fünfzig Minuten am Tag schreit. Und dürfen sich Eltern wirklich erst nach drei Wochen Unterstützung holen? Nein, das ist natürlich Blödsinn. Eltern dürfen und sollen sich Hilfe holen können, wenn sie sich mit der Situation überfordert fühlen. Dieser Zeitpunkt dafür ist sehr individuell. Er hängt vom Verlauf der Schwangerschaft und der Geburt ab, vor allem aber von persönlichen Ressourcen.
Deshalb kann auch ein Baby mit sehr hohen Bedürfnissen problemlos von seinen Eltern begleitet werden, ohne dass diese ans Ende ihrer Kräfte kommen. Vielleicht sind sie gut eingebettet in ein Netzwerk aus helfenden Freunden und Familienangehörigen. Andere Eltern sind mit einem Kind, was faktisch weniger schreit, schneller am Limit. Vielleicht auch deshalb, weil es noch andere zusätzliche Belastungen gibt. Darum kann keine Regel oder kein oberflächlicher Blick von außen sagen, was für die jeweiligen Eltern ein Kind mit sehr hohen Bedürfnissen ist.
„Pflegeleicht“ und „Glück gehabt“
Aber zurück zur Ausgangsfrage nach dem „Schreibaby“. Die kommt nämlich meist aus einem einfachen Grund. Anfangs schläft das Baby recht zuverlässig nach dem Stillen oder auch Füttern ein. Es lässt sich leicht „ablegen“ und schläft vielleicht sogar nachts drei oder vier Stunden am Stück. Das ist in den ersten Tagen gar nicht so selten. Viele Neugeborene schlafen anfangs sozusagen immer und überall. Gerade Ersteltern haben dann oft die Idee, dass sie nun „Glück mit dem Kind haben“. Oder sie denken, es hat schon „einen guten Rhythmus“ oder ist „einfach pflegeleicht“. Ich empfehle Eltern dann immer, diese entspanntere Zeit zum Auftanken der eigenen Kräfte zu nutzen. Außerdem weise ich vorsichtig darauf hin, dass sich dieses Verhalten gerne noch mal ändert. Das gilt für viele – aber nicht alle – Kinder, wenn sie zwei oder drei Wochen alt sind.
Dann nämlich werden viele Babys etwas „anspruchsvoller“. Plötzlich müssen die Bedingungen schon genau stimmen, damit das Baby leicht einschläft. Sicher, satt und geborgen – das sind Babys nun mal meist in enger mütterlicher Nähe. Ich „warne“ die Eltern deshalb vor, weil sie sonst gerne denken, sie hätten etwas falsch gemacht, wenn das Kind auf einmal unruhiger schläft oder insgesamt unzufriedener erscheint. Aber die zunehmende Unruhe bevorzugt in den Abendstunden hat meist andere Ursachen als elterliche Inkompetenz. Aber ob es nun ein Wachstumsschub oder das vermehrte Aufnehmen und Verarbeiten von neuen Eindrücken ist, es ist letztendlich egal. Hebammen nennen es gerne auch einfach Gebärmutterheimweh, wenn die Babys auf einmal nur noch im direkten Körperkontakt und am liebsten mit ständigen Zugang zur Nahrungsquelle zufrieden sind.
Gebärmutterheimweh mit zwei, drei Wochen ereilt viele Babys
Denn dieses Idealszenario hatten die Babys schließlich rund vierzig Schwangerschaftswochen lang. So sind viele Babys, manche von Anfang an, viele etwa ab der dritten Lebenswoche deutlich bedürftiger, was die elterliche Nähe anbelangt. Meist kollidiert diese durchaus anstrengende Phase mit dem Ende des Urlaubs der Väter nach der Geburt. Gut also, wenn noch ein bisschen Elternzeit danach machbar ist und diese nicht erst in zehn Monaten genommen wird, um eine lange Reise mit Baby zu machen. Denn gerade der ganz normale Babyalltag mit Haushalt und Co. ist oft die große Herausforderung. Auch an den permanenten Schlafmangel muss man sich erst mal gewöhnen.
Das Gute an anstrengenden Babyphasen ist, das sie auch enden. Sie werden absehbar immer wieder von Phasen abgelöst, in denen alles ein bisschen leichter läuft. Das passiert häufig im vierten und fünften Lebensmonat. Dann können viele Eltern noch mal ein bisschen Kraft tanken. Sie werden sie brauchen, wenn die Kinder mit einem halben Jahr auf einmal viel Neues lernen und erleben. Dann zählt plötzlich wieder ganz viel Rückversicherung durch vermehrte Nähe oder eine stark erhöhte Stillfrequenz. Natürlich lassen sich diese Phasen nicht für jedes Kind kalendarisch genau einordnen. Aber das Gebärmutterheimweh mit zwei, drei Wochen ereilt viele Babys genauso zuverlässig wie ein verändertes Schlafverhalten und eine große Anhänglichkeit mit circa einem halben Jahr. Ich weiß, die Phrase mit „nur eine Phase“ mag man da manchmal nicht mehr hören…
Stillen, schuckeln, summen…
Aber es ist nun mal so, dass sich unsere Kinder gerade im ersten Lebensjahr in einem rasanten Tempo entwickeln. So wird oft eine für die Eltern aber auch das Kind stressige Phase von einem neuen Meilenstein in der Entwicklung gekrönt. Jeder dieser kleinen und großen Schritte, sei es das erste Drehen oder das selbständige Hinsetzen, macht unsere kleinen Lieblingsmenschen etwas selbständiger. Auch das Gebärmutterheimweh hält nicht ewig an. Es dauert zumindest rückblickend immer nur kurze Zeit, bevor sich die Babys immer weiter weg vom mütterlichen und auch väterlichen Arm bewegen.
Auch unser drittes Kind war in seinen Gebärmutterheimweh-Phasen nachts nicht mehr „nur“ mit gefühlt stündlichem Stillen zufrieden. Es wollte anschließend noch auf dem Arm geschuckelt werden. Das ganze meist noch begleitet von meinem Gesumme, das dass Söhnchen scheinbar beruhigte. An Weiterschlafen war bei dem Programm natürlich nicht zu denken. Von meinen Töchtern war ich so viel nächtlichen Aufwand gar nicht gewohnt, aber jedes Kind ist ja schließlich anders.
Natürlich habe ich das hohe Schlafdefizit am Tage gemerkt und bin in dieser Zeit neben dem Mittagsschläfchen brav um 19.30 Uhr mit allen Kindern ins Bett gegangen. Meist habe ich schon vor den Großen geschlafen. Natürlich hat auch Christian mal geschuckelt und gesummt, aber irgendwie waren es auch meine und Babysohns ganz besonderen Nächte. In denen bekam der kleine Mann hoffentlich jene Geborgenheit und Nähe, um sein Gebärmutterheimweh zu überwinden. Mir hat es gut getan, dass Christian den munteren Schlafräuber dann um 5.30 Uhr übernommen hat.
Unterstützung und Schokolade
Wie lange das so ging? Keine Ahnung. Genau wie man Wehen und sonstige kraft- und nervenzehrende Zeiten als Mutter vergisst, verblassen auch hier meine konkreten Erinnerungen recht schnell. Deshalb entscheiden sich doch immer noch genug Eltern für mehrere Kinder, weil die schönen Momente einfach viel präsenter im Kopf bleiben.
Ja, man braucht Unterstützung in diesen anstrengenden Babyphasen. Man braucht gutes Essen und an manchen Tagen auch viel Schokolade oder was einem auch sonst immer gut tun mag. Ein gutes Netzwerk von Familie und Freunden ist hier die beste Ressource. In den heutigen Kleinfamilienzeiten ist es leider eine viel zu seltene. Darum muss man lernen, Prioritäten zu setzen. Der Haushalt zum Beispiel darf und wird zu kurz kommen. E-Mails können auch später oder auch mal gar nicht beantwortet werden. Wenn es wirklich wichtig ist, wird sich derjenige schon noch mal melden. Einkäufe und Essen dürfen gerne geliefert werden.
Es ist letztlich nur eine kurze Zeit, in der uns unsere Kinder so intensiv brauchen. Und wenn man merkt, dass die hohen Bedürfnisse des Babys einen überfordern, so darf man sich Hilfe holen – auch ganz ohne die „Diagnose: Schreibaby“. Die betreuende Hebamme ist da sicher ein guter erster Ansprechpartner. Manchmal reichen Entspannungstechniken für Mutter und Kind sowie kleine Tipps zur Entlastung im Alltag, manchmal ist ein weiterführendes Hilfsangebot wie zum Bespiel die Schreibabyambulanz der richtige Weg. Es gibt auch hier kein Patentrezept, das für alle Eltern und Babys gilt. Anstrengend dürfen sich solche Phasen anfühlen – schlecht gehen sollte es den Eltern aber nicht. Denn elterliche Kraft ist und bleibt nicht verhandelbar.
Dieser Beitrag wurde aktualisiert im Dezember 2016.
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