Eigentlich ist die Antwort auf diese Frage ja ganz einfach: Die Geburt dauert so lange, bis das Kind und korrekterweise auch die Placenta geboren ist. Allerdings ist diese Aussage wohl den meisten werdenden Eltern ein bisschen zu spärlich. Man sieht das deutlich zum Beispiel dann, wenn sie als werdende Ersteltern im Geburtsvorbereitungskurs danach fragen.
Mütter, die schon geboren haben, wissen derweil immerhin in etwa, was auf sie zukommt. Sie können in der Regel davon ausgehen, dass nachfolgende Geburten etwas schneller verlaufen werden. Doch gerade in der ersten Schwangerschaft ist alles neu und bisweilen vom Gefühl des Kontrollverlustes gezeichnet. Weder weiß man, wann die Geburt los geht, noch wie sie verlaufen wird. Da wäre es doch zumindest ganz schön zu wissen, wie lange das Ganze nun ungefähr dauern wird.
Ein Zentimeter pro Stunde?
Hebammenschülerinnen lernen im theoretischen Unterricht, dass sich der Muttermund durchschnittlich um einen Zentimeter pro Stunde bei einer normalen Geburt und guter Wehentätigkeit öffnet. Diese Annahmen zur durchschnittlichen Geburtsdauer gehen auf die Untersuchungen des amerikanischen Geburtshelfers Emanuel Friedmann in den 1950er Jahren zurück. Anhand dieser Ergebnisse wurde das in den meisten Kreißsäalen zur Dokumentation des Geburtsverlaufes benutzte Partogramm entwickelt. Hier wird der Verlauf der Eröffnung des Muttermundes auf die vollständigen zehn Zentimeter sowie das Tiefertreten des kindlichen Köpfchens (bzw. des Steißes bei einer Beckenendlage) eingezeichnet. Ein vermeintlich schleppender oder stagnierender Geburtsverlauf wird hier recht übersichtlich dargestellt.
Soweit die Theorie. In der Praxis werden alle Geburtshelfer:innen immer wieder Verläufe erleben, die komplett von diesem linearen Muttermunderöffnungsschema abweichen. Trotzdem verlaufen sie völlig physiologisch und komplikationsfrei. Wenn man Mutter und Kind den Raum und die Zeit dafür lässt, in ihrem eigenen Rhythmus und Tempo zu gebären. So individuell wie das Baby nach der Geburt ist, so verhält es sich auch mit dem Geburtsverlauf.
Stress bremst die Wehentätigkeit
Der Geburtsverlauf ist zudem recht störanfällig. So kommt es nicht selten vor, dass effektive und kräftige Wehen, die die Schwangere seit mehreren Stunden zu Hause auf Trab hielten, in der Klinik plötzlich komplett aufhören. Das ist hormonell ganz logisch. Denn nur wenn sich Frauen sicher und geborgen fühlen, kann das Wehenhormon Oxytocin entsprechend gut fließen.
Eine Autofahrt in die Klinik, das Aufnahmeprocedere und vielleicht auch erst mal ganz unbekannte Geburtshelfer, auf die man sich einlassen muss, sind mögliche Stressfaktoren, die die Wehenhormonausschüttung erst einmal bremsen können. So kann es also schnell vorkommen, dass die in der Literatur beschriebene Eröffnung des Muttermundes um circa einen Zentimeter pro Stunde stagniert.
Doch gibt es gleich einen Handlungsbedarf, wenn das Partogramm nicht ganz so gleichförmig verläuft? Sicherlich nicht, denn genauso wie manche Frauen die Geburtsarbeit in sehr kurzer Zeit erledigen, benötigen andere wesentlich mehr Zeit. Die Dauer bestimmt auch nicht die Zufriedenheit der Frauen mit ihrer Geburt. Ganz im Gegenteil fühlen sich Frauen mit sehr schnellen Geburtsverläufen oft sehr überrollt von Wehen und Geburt. Das gilt vor allem, wenn sie in dieser kurzen und sehr intensiven Zeit nur wenig Unterstützung erfahren haben.
Aufmerksame und kontinuierliche Geburtsbegleitung
Genauso kann bei guter Begleitung auch ein sehr langer Geburtsverlauf als gut und kraftvoll erlebt werden. Auch hier ist wieder eine aufmerksame und vor allem kontinuierliche Begleitung das Entscheidende für das gute Gefühl der Mutter nach der Geburt. Die sorgt auch dafür, dass bei langsameren Verläufen immer im Blick ist, dass es Mutter und Kind gut geht und nicht andere Parameter auf einen pathologischen Verlauf hinweisen. Unter diesen Voraussetzungen entsteht keine Notwendigkeit, die Mutter zu drängeln und damit störend ins Geburtsgeschehen einzugreifen.
Der Stress der Geburtshelfer wird nämlich schnell zum Stress der Gebärenden. Auch begleitende Väter bekommen schnell mit, wenn etwas scheinbar nicht „nach Plan“ läuft. Eine normale Geburt darf aber auch Phasen des physiologischen Stillstands haben. Meist können die Mütter hier noch mal Kraft tanken. Nach dieser Pause geht die Geburt dann ganz normal weiter. Die Beckenendlagengeburt unseres ersten Kindes hatte mit über dreißig Stunden Geburtsdauer noch mal eine ganz eigene Dynamik. Doch gerade die erste Eröffnungsphase war immer wieder von längeren Pausen gekennzeichnet. Ohne die wäre so ein langer Verlauf sicher auch schwer machbar gewesen.
Doch auch Kind zwei und drei hatten mit jeweils circa acht und sechs Stunden Geburtsdauer ihr ganz eigenes Tempo. Mal gab es lange Pausen und dann wieder Phasen, in denen die Geburt sehr rasch voranschritt. Gerade in der frühen Eröffnungsphase sind die Wehenmuster sehr unterschiedlich. Oft wird deshalb in der Geburtshilfe auch erst ab einer Muttermundseröffnung von drei, vier Zentimetern im Partogramm dokumentiert. Und das, obwohl die Gebärende auch da schon einige Wehenstunden hinter sich haben kann. Auch die so ganz verschiedenen Geburten unserer Kinder waren alles primär normale Verläufe – nur eben in ganz unterschiedlichen Rhythmen.
Die „normale“ Geburt ist wirtschaftlich uninteressant
Paradoxerweise ist die ganz normal verlaufende Geburt, die womöglich einfach ihre Zeit dauert und die 1:1-Unterstützung der Hebamme erfordert, die wirtschaftlich unattraktivste Geburtsform für die Klinik. Denn viel mehr Geld von den Krankenkassen gibt es für vermeintliche oder tatsächliche Komplikationen im Geburtsverlauf. Denn die ziehen dann meist weitere Interventionen nach sich. Das geduldige Abwarten und Überwachen des mütterlichen und kindlichen Wohlbefindens, ohne dabei in den Geburtsverlauf einzugreifen, ist für die Klinikfinanzierung ein Verlustgeschäft.
Das Ganze als „protrahierten Geburtsverlauf“ zu deklarieren und dann mit einem Wehentropf und allen oft daraus folgenden möglichen Konsequenzen (Zunahme der Schmerzen, PDA, operative Geburtsbeendigung, verstärkte Blutung…) zu intervenieren, ist für die Klinikkasse einfach attraktiver. Natürlich bemühen sich trotz dieser paradoxen Umstände auch die Geburtshelfer in der Klinik, nicht alle Frauen in diese Interventionskaskade zu bringen. Doch aufgrund sehr eng gefasster Leitlinien – auch in Bezug auf die Geburtsdauer – und einer zunehmenden Angst vor späteren Klagen sowie einer dünnen Personaldecke sind genau diese Verläufe doch eher häufig der Fall. Eine Umfrage des Deutschen Hebammenverbandes bestätigte die hohe Unzufriedenheit der angestellten Hebammen mit der Arbeitssituation in den Kliniken.
Geburt braucht Zeit, Geduld und Ruhe
Auch eine Normierung der Geburtsdauer trägt dazu bei. Beate Ramsayer (M.Sc. Midwifery) beschreibt in ihrem Buch „Die physiologische Geburt“, wie sich die Frauen zugestandene Geburtsdauer im Laufe der Zeit immer wieder ändert. So waren 1877 noch 20 Stunden eine angemessene Geburtsdauer für das erste Kind. In den 1970er Jahren wurde diese Dauer fast halbiert. Absurd, wenn man sich überlegt, dass es doch immer noch genau dieselben hormonellen und körperlichen Abläufe sind, die eine Geburt erfordert.
Deshalb werde ich diese Frage nicht abschließend mit einer bestimmten Stundenzahl beantworten. Vielleicht hilft am Ende ein treffendes Zitat aus dem oben genannten Buch:
„Wird Frauen die Zeit gegeben, die zum Gebären benötigt wird, trägt dies zur Sicherheit eines normalen Geburtsverlaufes bei, weil Zeit, Geduld und Ruhe elementar wichtig sind, damit der Prozess des Gebärens störungsfrei ablaufen kann. Gebären kann nicht normiert werden, da es sich um einen individuellen Prozess handelt, der seinen eigenen individuellen Rhythmus hat und auch Verzögerungen physiologisch sein können.“
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